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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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Rundgang fortsetzen dürfe. Sie begleitet mich. Ihr
Gesicht ist alt, sie trägt einen kurzen Kittel, wie ein Ministrant, und sie
humpelt. Wir gehen noch weiter hinauf, die Etage ist gerappelt voll mit
Kindern, die wohl darauf warten vorzuspielen. Ein auf dem Boden hockender Junge
drückt auf die Tasten einer Klarinette, die weit von seinem Mund entfernt ist,
entlockt ihr jedoch keine Töne. Die Pförtnerin erklärt mir, dass es untersagt ist,
auf dem Flur zu musizieren und laut zu sprechen.
    Neben dem Stampfen
des schwarzen Schuhs mit der Doppelsohle, die ihr kürzeres Bein stützt, gehe
ich weiter hinauf. Sie bleibt stehen, öffnet ein Fenster und verscheucht ein
paar Tauben, die in dem Winkel zwischen den Eisengittern nisten. Wir sind fast
ganz oben.
    An einer Wand finde
ich die alte Aufschrift wieder: TIŠINA , Ruhe, bitte, doch darunter klafft
das große Loch einer Explosion. Die Pförtnerin erzählt, man habe es so
gelassen, um daran zu erinnern, dass die Ruhe doch gestört wurde. Sie zündet
sich eine Zigarette an und greift sich an ihr steifes, klapperdürres Bein. Ganz
für sich nickt sie dieser Erinnerung nach. Ich frage, ob ich noch ein bisschen
bleiben könne. Ihr steifes Bein nachziehend geht sie weg und überlässt mich mir
selbst.
    Ich setze mich vor
diesem Loch in der Wand auf den Boden. Auf der anderen Seite leitet am Ende des
Raumes eine korpulente Frau mit einer merkwürdigen Schneckenfrisur die Gesangsübungen
einer kleinen Schülergruppe und fuchtelt wie ein Dirigent energisch mit einem
Stift herum.
    Ich betrachte die
Aufschrift, sie wirkt lächerlich und feierlich zugleich. RUHE, BITTE! Ich denke an den Einschlag, an die Granate,
die die Stille dieser an die Aufnahme von Musik gewöhnten Mauern entweihte. Ich
betrachte mein Leben durch die zerschossene Wand, durch dieses Loch, das
niemand mehr geschlossen hat.
    Es hatte ein
Referendum über die Unabhängigkeit Bosniens gegeben, die Straßen waren mit
nationalistischen Plakaten gepflastert. Die Mütter der zur Bundesarmee
einberufenen Soldaten demonstrierten mit Transparenten auf ihrem Körper dafür,
dass ihre Söhne wieder nach Hause kamen. Die Nachrichten waren inzwischen
alarmierend, irgendwer behauptete sogar, man habe schon bei den Vorbereitungen
zu den Olympischen Winterspielen, als man die Pisten anlegte, die
Schützengräben für den kommenden Krieg im Auge gehabt.
    Gojko sagte, das sei
alles nur dumme Panikmache.
    »Auf dem Land fällt
die Propaganda auf fruchtbaren Boden, weil es nicht schwer ist, einen Bauern
davon zu überzeugen, dass sein Nachbar ein Türke ist, der ihm den Acker wegnehmen
und ihm die Kehle durchschneiden will. Doch hier gibt es keine Türken und auch
keine Tschetniks und keine Ustascha. Hier sind wir alle nur Einwohner
Sarajevos.«
    Doch Diego kannte die
Sprache der Stadien. Karadžić war der
Psychologe der Fußballmannschaft von Sarajevo gewesen und Arkan der Anführer
der Hooligans von Roter Stern Belgrad.
    »Kriege beginnen in
Zeiten des Friedens und in den Außenbezirken der Städte, während ihr in euren
Kulturzirkeln sitzt und über Poesie palavert.«
    Endlose Diskussionen
begleiteten uns am Abend nach Hause.
    Diego und ich waren
aus dem Hotel ausgezogen und hatten ein Zimmer bei einem alten Ehepaar
gemietet. Er, Jovan, war Biologe, ein weißhaariger, wortkarger Herr, der
empfindlich gegen Kälte war und Barchenthemden trug, die bis zum obersten Knopf
geschlossen waren. Seine Frau Velida hatte ihr Leben lang als seine Assistentin
gearbeitet. Sie war sehr dünn, immer grau gekleidet wie eine Nonne, und hatte
lebhafte, grüne Augen. Wir erwiesen uns gegenseitig kleine Gefälligkeiten. Ich
gab ihnen die ausländischen Zeitungen, die Diego einmal in der Woche kaufte und
die für ihre Rente zu teuer waren, und Velida stellte uns einen Teller vor die
Tür, wenn sie etwas Schönes gekocht hatte. Ein kleiner Gang trennte unser
Zimmer von der restlichen Wohnung, sodass wir für uns waren. Wir hatten einen
eigenen Schlüssel und ein eigenes Bad, und dazu noch einen kleinen Kaffeekocher.
    An jenem Abend war
Diego losgegangen, um in der Gegend von Grbavica zu fotografieren. Ich war
allein und aufgewühlt. Es war sehr spät, Gojko klopfte an die Tür, machte ein
paar Schritte ins Zimmer hinein und ließ sich aufs Bett fallen. Er hatte den ganzen
Tag mit einem Amerikaner im Parlament verbracht und die politischen Debatten
übersetzt, die bis in den späten Abend gedauert hatten. Die Mitglieder der
Partei der bosnischen

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