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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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nicht, in den Keller hinunterzugehen,
wie es inzwischen viele taten. »Der Sommer steht vor der Tür«, sagte Velida.
»Im Sommer brauchen wir keine Heizung, wir können wie auf dem Zeltplatz leben.«
    Sie hatten oft
gezeltet, Jovan und sie, in den Naturparks Bosniens, unterhalb der Wasserfälle.
Sich stundenlang über Wasserlachen gebeugt, um Mikroorganismen zu erforschen.
    Wir hatten uns an die
Alarmsirenen und an das Pfeifen der Granaten gewöhnt. Ich glaubte, nie wieder
schlafen zu können, ich blieb wach, die Augen weit aufgerissen und meine Hand
in der von Diego. Ich dachte an unsere Wohnung in Rom, an das Wohnzimmer, an
die Küche, an die Fotos, die in einer langen Reihe an der Wand hingen. Ich
dachte an unsere ruhige Straße, durch die nachts nur jemand kam, um seinen Hund
auszuführen. Mein Vater hatte unseren Schlüssel, er goss die gegen die Fenster
gepressten Blumen, setzte sich in die Stille, kochte sich einen Kaffee und
spülte die Tasse ab. Seit einer Woche hatte ich nichts mehr von ihm gehört.
Beim letzten Mal konnte er nicht sprechen, es hatte ihm vor Kummer die Sprache
verschlagen.
    Ich hatte ihm nicht
viel erzählt. Durch einen Freund von Gojko, der nach Zagreb zurückkehrte, war
es mir gelungen, ein paar von Diegos Filmen wegzuschicken, und ich hatte meinen
Vater gebeten, darauf zu achten, dass die Bilder unter Diegos Namen
veröffentlicht wurden und nicht unter dem Signet der Agentur.
    Später lernten wir zu
schlafen, in den Schlaf zu sinken, um dieser Hölle wenigstens für einige
Stunden zu entkommen. Wir standen frühmorgens auf, um das Licht zu nutzen.
Diego ging aus dem Haus, und ich umarmte ihn fest. Inzwischen umarmten sich
alle fest, wenn sie sich sahen, und sie verabschiedeten sich voneinander, als
sollten sie sich nie wiedersehen.
    Sebinas Turnlehrer
war tot und auch die Apothekerin. Leichname, die eine Zeitlang verlassen
dalagen, weil es viel zu gefährlich war, zu ihnen zu gehen, der Heckenschütze
am Zielfernrohr wartete nur darauf. Sie wurden erst nachts weggeschleppt und
auch nachts auf dem alten muslimischen Friedhof begraben. Stille Begräbnisse,
Menschen, so zart wie nächtliche Schmetterlinge. Man trotzte dem Tod, um den
Tod zu begraben.
    In diesen Maitagen
lernten wir alles. Wir lernten, die heisere Stimme der Kalaschnikows und das
Pfeifen der Granaten zu erkennen. Das Krachen der Mörser und dann das Pfeifen.
Wenn man nach dem Krachen hörte, wie das Pfeifen über dem Kopf durch die Luft
zog, war man noch einmal davongekommen. Hörte man nichts, hatte die Granate
ihren Bogen bereits beendet und war vielleicht dort, wo man selbst gerade
stand, im Sturzflug. Wir lernten, dass die Berge am Tag nach einem besonders
wilden Hagel von Explosionen für gewöhnlich schwiegen. Wir lernten, dass die
Heckenschützen zu einer bestimmten Uhrzeit Mittagspause machten und dass ihre
Treffsicherheit bei Sonnenuntergang geringer war, weil sie dann mit Rakija
abgefüllt waren.
    Wir lernten, wie wir
uns bewegen mussten. An Orten ohne Deckung wie die Hasen zu laufen: in den
Lücken zwischen den Wohnblocks und auf Kreuzungen, die von den Bergen aus gut
einzusehen waren.
    Ich wollte nur noch
weg. Doch Diego konnte sich nicht losreißen, mit der Kamera um den Hals und dem
Rucksack auf den Schultern ging er viele Kilometer weit. Wenn er nach Hause
kam, brachte er etwas zu essen mit oder Kerzen für die Nacht.
    Ich blieb fast
ununterbrochen im Haus. Nur manchmal ging ich mit Velida zum Markt. Es gab fast
nichts mehr, nur noch ein bisschen Gemüse aus den Gärten in Sarajevo, und die
Preise hatten sich verzehnfacht. Die Brotfabrik arbeitete noch, aber man musste
ewig anstehen.
    Wir lernten, dass die
Waffenruhe trügerisch war, sie dauerte nur wenige Stunden, dann begann der Tanz
von neuem. Die Straßen sahen jeden Tag anders aus, sie zerbröckelten und wurden
nur notdürftig geräumt. Betonblöcke, Straßenbahnwagen und Plastikplanen, die
zwischen die Wohnblocks gespannt waren, versperrten den Heckenschützen nun die
Sicht. Die Stadt hatte angefangen, sich mit behelfsmäßigen Waffen und mit Freiwilligen
zu organisieren. In den Straßengräben kämpften reguläre bosnische Truppen.
Verbrecherbanden nutzten die Gunst der Stunde, um in Sarajevo die Wohnungen von
serbischen Einwohnern zu plündern, von Professoren und dem Mittelstand. Die Geschäfte
des Krieges hatten begonnen, der Konfiszierungen, des Schwarzmarktes. Man wurde
von finsteren Gestalten bedrängt, die alles Mögliche verkaufen und

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