Das schönste Wort der Welt
Devisen
tauschen wollten. Die weißen Panzerfahrzeuge der Vereinten Nationen parkten
untätig wie träge Hühner in der Sonne.
Nachts ging das Leben
trotzdem weiter, man überlebte in Kellern und Kneipen mit dem Schlagabtausch
bitterer Witze. Noch gab es Bier, das legendäre Sarajevsko pivo, das jetzt
allerdings anders schmeckte, herb und fremd wie der Humor. Und es gab die
Hoffnung, dass noch vor dem Sommer alles vorbei sein würde.
Wir hatten eine neue
Kaffeebar gefunden, man musste ein paar Stufen hinuntergehen und kam in eine
kleine, rauchgeschwängerte Höhle. Dort unten war man zumindest in Sicherheit.
Die Musik von Radio Zid überdeckte die Rülpser am Himmel und das Sirenengeheul.
Wir mussten die Ausgangssperre ignorieren, um dorthin zu gehen. Die Mädchen
waren modisch gekleidet und geschminkt. Ana und Dragana tanzten eng
umschlungen. Mladjo, der Maler schnitt jetzt menschliche Figuren aus dem
Sperrholz von Schranktüren zu, bemalte sie und stellte sie mitten auf die Straße,
um die Heckenschützen zu veralbern. Alle hatten Lust, sich zu amüsieren, und
wollten sich von den Bestien in den Bergen nicht unterkriegen lassen.
Gojko brachte
manchmal einen Journalisten mit, der ein bisschen mutiger war als die anderen
und im belagerten Sarajevo hinter den Kulissen stöbern wollte. Er ließ ihn eine
Runde für alle spendieren und erleichterte ihn um etliche Mark. Wir schauten
nicht von den schmutzigen Gläsern auf. Eines Abends stand Gojko auf und
deklamierte ein Gedicht für einen toten Freund:
Du hast
nichts zurückgelassen
in
deinem alten Haus,
nur das
zerdrückte Bett
und
eine brennende Zigarette.
Du hast
nichts zurückgelassen
in
deinem alten Leben,
nur
deinen Hund Igor,
und
seine volle Harnblase
in
Erwartung deiner Rückkehr.
Nachts drücken wir
uns an den Hauswänden entlang. Zusammen mit uns schlängeln sich auch andere
menschliche Schatten davon, lautlos wie Algen im Meer. Wir bewegen uns wie in
einem schwarzen Aquarium. Es gibt kein Licht, nur verloschene Kerzen. Es
herrscht vollkommene Finsternis. Der Mond ist die Laterne eines Gespenstes. Das
rote Licht eines Phosphorgeschosses strahlt uns für ein paar Sekunden an, dann
fällt es nieder wie ein herabstürzender Stern.
Wir sind allein.
Diego stinkt wie ein Hund, es gibt kein Wasser. Wir waschen uns in derselben
Schüssel.
Mirna hat sich die
Brille aufgesetzt und mit der Unterrichtsvorbereitung für ihre Schüler
begonnen. Die Schule ist geschlossen, doch sie und ihre Kollegen wollen zu
Hause kleine Schulklassen organisieren. Wer kann, geht weiter zur Arbeit, zu
Fuß, die Glücklicheren mit dem Fahrrad. Straßenbahnen fahren nicht, und für die
Autos gibt es kein Benzin mehr.
Sebina lacht und
sagt, ihr Haus sei schon ganz schwarz vom Smog, ohne Autos sei es viel besser.
Als Mirna aus dem Haus gehen will, zieht sie Schuhe mit hohen Absätzen an. Ich
muss lächeln, sie sind jetzt nicht gerade das Praktischste. Doch sie bleibt
ernst, hat nicht die Absicht, ihr Leben zu ändern und den ganzen Tag wie ein
Hase herumzuhoppeln. Auch ihr Trenchcoat ist tadellos. Energisch zieht sie den
Gürtel fest. Sie hat jetzt wieder ihre Mädchenfigur, und die Schminke reicht
nicht, um ihre Blässe zu verdecken. Auch sie hat nicht vor, Sarajevo zu
verlassen.
»Wer wegwollte, ist
längst weg. Wir bleiben.«
Ich sage ihr, dass
wir abreisen, sobald wir einen Platz in einem der Transporte nach Zagreb oder
Belgrad bekommen. Sage ihr, dass ich Sebina mit nach Italien nehmen möchte.
»Für Ausländer ist
alles leichter«, sage ich.
Meine Patentochter
sieht mich an, von heiligem bosnischen Hass erfüllt. Sie hat jetzt Ähnlichkeit
mit diesem Bison in Gestalt ihres Bruders. Schreit, sie denke gar nicht daran,
mit mir wegzufahren, sie wolle bei ihrer Mutter bleiben.
»Das ist doch nur so
was wie Urlaub«, versuche ich ihr zu erklären.
Aber mein Patenkind
ist das gerissenste kleine Mädchen aus ganz Sarajevo! Sie beruhigt sich,
schlägt in ihrem rosa Filmstar-Sesselchen die Beine übereinander und verkündet
mit der Gelassenheit eines Staatsoberhaupts, Urlaub mache man in
Friedenszeiten, sie aber befänden sich im Krieg. Auf jeden Fall hätten sie es
besser als andere, weil Gojko für ausländische Journalisten arbeite. Sie haben
Sebinas Aquarium in die Küche geräumt, die nach hinten hinausgeht, auf das
Viereck der Höfe. Gojko hat einen kleinen Stromgenerator besorgt.
Die Dunkelheit hat
sich herabgesenkt, das Aquarium ist beleuchtet. Es ist in dieser
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