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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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den Fall, dass der, der ihn
verloren hat, noch einmal vorbeikommt. Einzelne Handschuhe, traurig und
dreckig. Da hing er also wie ein Handschuh an einem Eisengeländer, das die
Straße teilt. Er hatte keinen Bauch mehr. Nur noch ein großes, rundes, leicht
ausgefranstes Loch. Hinter ihm sah man weglaufende Leute und Tragbahren, und er
lag da wie für einen Spezialeffekt.
    An diesem Tag schien
Gojko völlig durchzudrehen, er rannte sofort dorthin und schrie die
Journalisten an, sie sollten das alles filmen.
    »So wird man auf uns
aufmerksam!«
    »Na los, nehmt und
fresst das alles, das ist unser Blut!«
    Dann spritzte er weg,
verzweifelt wie Judas, der davonläuft, um sich zu erhängen.
    Später schwieg die
Stadt. Es war ein Tag der Zuversicht gewesen. Junge Burschen in Tarnanzügen und
mit himmelblauen Helmen waren eingetroffen, und die Leute hatten sich
eingebildet, das wären Schutzengel und alles wäre vorbei. Stattdessen war das
Krankenhaus nun voller Fleisch, das wieder zusammengeflickt werden musste. Auch
die Berge schwiegen. Und die Fernsehsender der Welt taten nichts, als diesen
schaurigen Film ablaufen zu lassen. Die Bestien in den Bergen hatten sich
verkrochen, um sich mit Rakija volllaufen zu lassen und ihre Berühmtheit zu
feiern.
    Zwei Tage später
reisten wir ab. Es gab wieder Strom, in der Nacht fingen sämtliche
Waschmaschinen von Sarajevo an zu laufen. Ich hielt das für ein gutes Zeichen.
Wir kamen mit einem Bus nach Zagreb, der sogar klimatisiert war, einem von
denen, die sonst immer Pilger nach Medjugorje brachten. Dann konnten wir uns in
Ruhe in ein Flugzeug setzen. Ich wollte Diego so vieles sagen und sagte: »Ein
Teller Spaghetti, was meinst du?«
    Diego lächelte.
    Seine Augen waren
gerötet, er musste zum Arzt, das war das Erste, worum ich mich kümmern wollte.
Und mir ging durch den Kopf, dass Gott unsere Augen von alldem nie wieder
reinwaschen würde.

Ich sehe den Himmel draußen
    Ich sehe den Himmel
draußen vor dem Flugzeugfenster. Den sauberen Himmel der Menschen im Frieden,
der Passagierflugzeuge, der Zugvögel, die wegfliegen und wiederkommen. Wir
steigen nach dem kurzen Flug unter dem weißen Flügel dieses Glückshimmels aus.
Dieser Meeresbrise und der Schwalben, die zum Trinken zurückgekommen sind.
    Mein Vater holt uns
ab. Abgemagert, mit auf die Brille geklappten Sonnengläsern und in einem seiner
Baumwollhemden eines Häftlings im Freigang. Er umarmt uns mit einem breiten,
optimistischen Lächeln. Als kämen wir aus dem Urlaub. Dann senkt er sofort den
Kopf, nimmt mir mein Gepäck ab und möchte auch Diegos tragen.
    Er wirkt wie ein
übereifriger Fremdenführer, einer, der auf ein Trinkgeld aus ist. Und wir sehen
aus wie Touristen. Zerzaust und staubig. Zurück von einer Safari.
    Wie war
die Jagd? Habt ihr ein paar Trophäen mitgebracht? Einen Stoßzahn, ein
Schwänzchen …
    Ja, einen Schwanz
haben wir mitgebracht, dreckig schleift er hinter uns her und gerät uns
zwischen die Beine. Einen verletzten Schwanz. Man muss ihm Zeit lassen, ein
paar Tage, und er wird abfallen, ein stinkender Zipfel Fleisch, der absterben
wird. Dann werden wir wieder wir sein, die von früher. Gelackte Ärsche und
Drinks in der Sonne.
    Mein Vater öffnet den
Kofferraum und verstaut unser Gepäck. Diego lässt sich den Rucksack von den
Schultern ziehen. Es ist, als ließe er ein Stück von sich selbst los, den
Körper eines Kindes.
    Er setzt sich nach
hinten und streckt sich auf dem Sitz aus. Mein Vater sieht auf die Straße. Ein
erloschenes Lächeln sitzt fest um seinen Mund. Er stellt keine Fragen, wartet
darauf, dass ich etwas sage.
    An diesem Morgen rast
mein Vater, er ist ein furchtloser Fahrer. Einer von denen, die Krankenwagen
lenken. Er hat zwei Verletzte an Bord.
    Ich sehe die
Straßenschilder. Sehe die breiten, glatten Asphaltbahnen, die nach Rom führen.
Die technisch überprüften Autos mit ihren genehmigten Auspuffrohren, die Ruhe
dieses Straßenverkehrs. Diese Normalität kommt mir vor wie ein Wunder, wie ein
Spezialeffekt. Ich habe noch die brennenden Autos vor Augen, diese schaukelnden
Klapperkisten. Ich drehe mich zu Diego um.
    »Wie geht’s deinen
Augen?«
    Er hat sie
geschlossen, zwei geschwollene, rosa Blasen, von Äderchen durchzogen … Sie
sehen aus wie die Bäuche frisch geschlüpfter Vögel. Mein Vater lebt auf, er
wird in der Augenklinik anrufen, er hat da einen Freund, einen Chefarzt.
    »Für einen Fotografen
sind die Augen sehr wichtig, sie sind Kimme und Korn.«
    Diego legt

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