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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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umzublättern.
    Sie war jetzt
bestimmt auch dort, auf allen vieren, fiebrig und rußverschmiert zwischen den
anderen Jugendlichen dieser Kette freiwilliger Helfer, die zu graben begonnen
hatten, um wenigstens ein paar Seiten zu retten, ein Stück von sich selbst in
diesem Martyrium. Für einen Moment glaubte ich, Diego zu sehen, doch er war es
nicht, es war jemand anders.
    Dann rief er an.
    »Ich bin’s.«
    Seine Stimme blechern
und unglaublich nah.
    »Wo? Wo bist du?!«
    Er war im Holiday Inn . Er benutzte das Satellitentelefon
eines kanadischen Fernsehreporters. Es herrschte ein Mordskrach, er war in der
Hotelhalle, und jemand neben ihm schrie etwas auf Englisch, man hörte auch
Gelächter, weiter weg, doch deutlich.
    »Wie geht es dir? …
Sprich lauter!«
    »Gut, es geht mir
gut.«
    Er wirkte unglaublich
ruhig.
    Ich erkundigte mich
nach seiner Fahrt. Er schwieg einen Moment, er schien sie schon vergessen zu
haben. Dann erzählte er, dass er über Medjugorje gefahren sei und die Messe
gehört habe, als einziger Mann zwischen lauter in Tränen aufgelösten
Bäuerinnen. Die kleinen Jungen in den serbischen Enklaven hatten ihn mit den
drei erhobenen Fingern gegrüßt. Er war von allen angehalten worden, von den
Serben, von den Kroaten und von den muslimischen Grünen Baretten, doch sein
Presseausweis und ein paar Hundert Mark hatten genügt. Auf dem letzten Stück
Weg, dem tückischsten, dem Igman-Pass, stand er unter dem Schutz von drei UNO -Panzerwagen, die die Lastwagen eines
Hilfskonvois eskortierten.
    Ich wollte ihm so
vieles sagen. Seit mehr als sechs Tagen wartete ich auf diesen Augenblick, in
der Wohnung vergraben, ohne mich vom Telefon wegzurühren, und jetzt war ich
vollkommen unvorbereitet.
    Ich sagte etwas
denkbar Dämliches.
    »Haben sie dich denn
nicht erschossen?«
    Er sagte nichts, ich
hörte ihn husten.
    »Noch nicht, nein.«
    Ich fragte nach Gojko
und Sebina, nach Velida und Jovan, nach Ana und den anderen.
    Sie waren alle am
Leben.
    »Und Aska? Hast du
sie getroffen?«
    Ich hatte den Hörer,
aus dem nun ein regelmäßiges Tuten erklang, achtlos auf meine Beine sinken
lassen und konnte mich nicht entschließen, aufzulegen, als könnte Diego aus der
Ferne wiederkommen.
    Er hatte all die
Kilometer vorbei an niedergebrannten Dörfern, Minen und gesprengten Brücken
heil hinter sich gebracht und war in die Stadt zurückgekehrt, aus der alle nur
wegstrebten. Er hatte die Reise entgegengesetzt zu den Konvois von Flüchtlingen
und Waisen gemacht, die der Belagerung entkommen wollten. Jetzt war er dort, in
diesem Sarg.
    Ich rief meinen Vater
an.
    »Er ist angekommen.«
    Ich hörte, wie er
weinte und seine Kehle freiräusperte.
    »Hat er gesagt, wo er
schläft?«
    »Ich weiß überhaupt
nichts, Papa.«
    Das hier war meine
Front. Diese ruhige Stadt. Diese saubere, leere Wohnung ohne Diego. Nichts lag
mehr herum, seine Jeans nicht, seine Kippen nicht und auch seine Filme nicht,
die immer unters Sofa gerollt waren. Die Unordnung gehörte ausschließlich ihm,
und vielleicht gehörte ja auch das Leben ihm. Allein machte ich nichts
schmutzig, existierte ich gar nicht. Ich war neutral, geruchlos. Ich aß und
räumte schon den Teller weg. Das Bett war immer unberührt. Ich schlief lieber
am Klavier. Es war für mich wie eine große, weiße Urne, die die Asche unserer
besten Tage verwahrte. Ich wartete auf den Frieden, auf die UNO -Resolutionen. Ich hörte den Papst,
der eindringlich darum bat, die Waffen niederzulegen. Doch unterdessen tranken
die Auftraggeber des Grauens in Genf Mineralwasser.
    Er war dort, an der
Front, die er sich ausgesucht hatte. Die der zerborstenen Fensterscheiben.
    Dazwischen dieses
Niemandsland, das mein Körper war, verlassen wie die verbrannte, von
Maschinengewehrgarben versengte Erde zwischen zwei Schützengräben. An denen im
Morgengrauen zufällig ein Eichhörnchen vorbeikommt, sich umschaut und die
Gegenwart der Menschen zwar spürt, doch die Männer hinter den Sandsäcken nicht
sieht.
    So bewegte auch ich
mich, ungläubig, verstört.
    Ich streute unserem
kleinen Vogel weiter Brotkrümel hin, ich musste sie auf dem Fensterbrett liegen
lassen, er traute sich nicht heran. Er war nur an die Hand Diegos gewöhnt, des
Jungen, der das Fenster auch im Winter mit freiem Oberkörper öffnete.
    Fast täglich ging ich
zum Außenministerium, um Neues zu erfahren, ich wartete stundenlang, bis ich
mit einem Beamten sprechen konnte.
    »Ich muss zu meinem
Mann.«
    Ich wollte die
Genehmigung, in

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