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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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erstarrten
Gesicht, die wie einer seiner Späße aussieht, nur dass sie eben nicht mehr
verschwindet, sie löst sich einfach nicht auf.
    Mein Vater schafft es
nicht, die Mispel zu essen.
    Jetzt tränt das
offene Auge, ein langer schleimiger Tropfen rinnt herab.
    Ich vermute, dass das
von der Lähmung kommt, und finde es absurd, dass wir hier Mispeln essen,
anstatt ins Krankenhaus zu rasen.
    Ich stehe auf und
sage, dass ich die Autoschlüssel hole.
    Er sagt: »Setz dich,
mein Schatz.«
    Das ist nicht seine
Stimme, das ist ein leises Krächzen.
    Es ist genauso
erschütternd wie sein entstelltes Gesicht.
    Er zerteilt noch eine
Mispel und reicht sie mir.
    »Hier, iss.«
    Ich kann sie nicht
runterschlucken, sie bleibt mir im Hals stecken, mir kommt das alles absurd
vor, unglaublich. Jetzt ahne ich, dass hinter diesem jämmerlich verzogenen
Gesicht ein hässliches Geheimnis steckt. Es scheint zu einem reglosen Schrei an
einem Fluss verzerrt zu sein, wie auf dem Bild mit dem einsamen Mann und seinem
schwarzen Mund.
    Ich lasse die Mispel
fallen und nehme die Stückchen aus dem Mund.
    Ich suche das offene,
tränende Auge.
    »Hast du was gehört,
Papa?«
    Mir fällt ein, dass
Mispeln Diegos Lieblingsfrüchte sind und mein Vater sie ihm immer mitbrachte.
    »Hast du was gehört?«
    Ich begreife nicht,
warum mein Vater sie ausgerechnet heute mitgebracht hat, warum er extra ins
Stadtzentrum gefahren ist, um sie zu besorgen, wo doch noch gar keine Saison
dafür ist und sie mir ohnehin nicht besonders schmecken, das weiß er ja.
    Er hatte tausend
Möglichkeiten, um es mir zu sagen, oder vielleicht nur diese eine. Er hat mir
Diegos Geschmack aus der Zeit, als er noch lebte, in den Mund gelegt, das ist
schon etwas, etwas von dem, was wir in Zukunft machen werden.
    Wir werden ab und zu
ein paar Mispeln essen, in aller Stille, und uns an ihn erinnern, an den
Fotografen aus Genua, der Armandos Nummer neben das Wort geschrieben hat, das
ihm am meisten fehlte, Papa.
    Jetzt bin ich bereit.
Denn da ist diese alte Erinnerung in mir, dieser Kehrreim, den ich in Sarajevo
gelernt habe.
    Wichtig ist, dass man
den Sand durchrinnen lässt, dass man ihn in seinem Körper nach unten rieseln
lässt. Er ist es, der uns trotz allem auf den Beinen hält, wie der Zementsockel
eines Sonnenschirms.
    »Er ist tot, nicht
wahr?«
    Mein Vater starrt
mich mit dieser Gesichtslähmung an, deren Ursache ich nun kenne. So weit weg
wie der Schrei des Mannes bei Munch.
    Er nickt nicht,
starrt mich mit dem einen Auge und mit dem Schlitz des anderen an und wiegt den
Kopf hin und her wie ein Verrückter in einer Anstalt.
    Er seufzt schwach. Oh … oh … oh , dreimal.
    Ich warte vor diesem
entstellten Gesicht auf den Untergang.
    Dann nickt er
langsam, doch nur leicht, als wäre er nicht ganz überzeugt. Er verharrt mit dem
schiefen Kinn in der Luft, als wäre ich es und diese blöden Mispeln, die er das
fragte … um mich sagen zu hören, dass man sich geirrt habe. Der aufgefundene Tote
sei nicht Diego, es sei ein anderer.
    Ich warte darauf,
dass sein Gesicht sich wieder zusammensetzt, wie ein Filmbild, das
rückwärtsläuft. Dabei weiß ich, dass das nicht geschehen kann.
    Ich senke den Blick
und lasse ab von diesem Gesicht, das seiner selbst und seiner Sanftheit beraubt
ist. Des Friedens beraubt ist. Es kommt mir vor wie der letzte Gruß aus
Sarajevo, meine ganze Zukunft ist darin gefangen. Das Leben wird künftig nur
noch dieses schiefe Gesicht haben, diese entsetzte Fratze.
    Vielleicht wird auch
mein Gesicht in einem stimmlosen Schrei erstarren, und mein Vater und ich
werden zwei Krüppel bleiben.
    Ich habe Angst um den
alten Mann, habe Angst, dass auch er stirbt, jetzt, in dieser Küche. Dass er am
Tisch zwischen den Mispeln zusammensinkt.
    Er schaut mich an, um
zu sehen, ob ich durchdrehe.
    Auch er hat Angst.
Ich spüre den Geruch seiner Angst. Seiner Hände, die nun mit sonderbaren,
unwillkürlichen Zuckungen unentwegt die kleinen Früchte betasten.
    »Ist er tot?«
    »Ja.«
    Ich drehe nicht
durch. Ich bin bereits trainiert, es gehörte zur Reise dazu, zum Gesamtpaket.
Es war all-inclusive.
    Diesen Augenblick
habe ich schon mal erlebt. In der Leichenhalle des Koševo-Krankenhauses war zwischen Jovan und
dem blauen Kind eine der Stahlbahren nackt, leer.
    Nun kehrt diese
Bahre, die ich gesehen und vergessen habe, zurück. Nun weiß ich, dass sie auf
einen Leichnam wartete, auf den dritten Leichnam zwischen dem Greis und dem
Kind. Wie ein Kreuz, das sich vollenden

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