Das schönste Wort der Welt
großen Villa im venezianischen Stil. Sie
sieht aus wie ein altes Wohnhaus, mit hellen, kaum abgeschabten Wänden, an
denen ein fleischblasses Rosa hervorscheint. Zierliche Einfassungen, eine hohe Tür
mit Spitzbogen und im ersten Stock eine weit offene Fenstertür zu einer
Terrasse, die von einem gebauchten Eisengitter umsäumt ist. Auf einem Gemisch
aus Sand und Schotter betreten wir einen unordentlichen, fröhlichen Garten
voller Kinderspielzeug und Holzstaffeleien, auf denen Fotografien und Gemälde
stehen. Es herrscht die Festtagsstimmung einer Dorfkirmes. Einige über einen großen
Tisch gebeugte Frauen sind dabei, Fäden aus einem immensen Stickereikissen zu
ziehen. Ich gehe zu ihnen, und sie machen mir lächelnd Platz, um mir die
riesige Arbeit zu zeigen.
Gojko stellt mich
vor. »Das ist meine Freundin Gemma aus Rom und das ihr Sohn Pietro.«
Pietro lässt sich von
all den Müttern küssen und fängt ein Gespräch an, er fragt sie, wie lange sie
für diese Stickerei, für dieses gigantische Friedenssymbol gebraucht hätten.
Die Zahl der Lilien sei nicht willkürlich gewählt, erklärt mir ein Mädchen, es sei
die Zahl der im Krieg getöteten Kinder, daher hätten nicht sie die Größe des
Blumentuchs bestimmt.
Eine Frau kommt auf
mich zu, sie trägt schwarzes Leinen und eine große Sonnenbrille, sie wirkt wie
eine Intellektuelle und spricht in ein Handy. Als sie ihr Gespräch beendet hat,
schlägt sie mir auf die Schulter.
»Na, wie geht’s?«
Es ist Ana, sie
fragt, ob ich sie nicht mehr kenne, ich sage Nein, ich hätte sie nicht erkannt,
sie sehe aus wie eine Schauspielerin. Doch dann umarmen wir uns, ich schaue sie
noch einmal an und stelle fest, dass ich sie sehr wohl erkenne. Und wie ich sie
erkenne.
Sie hat einen
Zahnarzt geheiratet. Die zwei arbeiten zusammen, sie kümmert sich um die
Terminvergabe. Kinder haben sie keine, wegen der Behandlungen, denen sie sich
unterziehen musste, Bestrahlungen , sagt sie, aber nicht von der Sonne , sie lacht. Ana hatte Probleme, danach , so wie viele Frauen danach .
Sie und Gojko haben
sich nie aus den Augen verloren. Es sind noch viele andere Frauen aus Sarajevo
da, sie stellt sie mir vor, gealterte Gesichter meiner Generation. Einige kenne
ich, es sind die Mädchen von damals, die aus der Wohngemeinschaft in Sarajevo,
die vor dem Krieg schwarze Miniröcke trugen, R.E.M. und bosnischen Rock hörten und
untereinander die Liebhaber tauschten, um sich als Teil Europas zu fühlen.
Auf einem Tisch
stehen Karaffen mit selbstgemachten Getränken. Wir sitzen im Schaukelstuhl und
trinken Blaubeersaft, wie zwei Sommerfrischler aus vergangenen Zeiten.
Ana erzählt mir von
dem Verein, von Frauen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, die sich nach dem
Krieg zusammengetan haben, um anderen Frauen zu helfen. Im Sommer zeigen sie
Filme und organisieren Fotoausstellungen, Konzerte und Lesungen. Im Winter
werden Fortbildungsseminare angeboten, Computerkurse, Sprachkurse, es gibt eine
Tanzschule und Musikunterricht.
Sie zeigt mir ein
bildschönes Mädchen mit langen, schwarzen Haaren und schneeweißer Haut. Es
heißt Vesna.
»Eines Tages hat sie
ihren Vater in Filmaufnahmen im Fernsehen erkannt, er war einer der Schlächter
von Srebrenica. Vesna hat sechs Jahre lang nicht mehr gesprochen. Ihre Mutter
hat den Vater verlassen und das stumme Mädchen zu uns gebracht. An dem Tag, als
sie wieder anfing zu sprechen, haben wir alle geweint, wir waren am Strand, und
das erste Wort, das sie sagte, war sidro , was in unserer Sprache Anker heißt, darum haben wir unsere
Organisation Sidro genannt.«
Es ist ein Gebäude
aus hellen Steinquadern gleich am Strand, mit roten Fensterläden und
Flachdächern mit Abflüssen für das Regenwasser, dazu eine Veranda, eingefasst
von niedrigen Blumenkästen, in denen windschiefe Geranien wachsen.
»Da wären wir, hier
wohne ich.«
An der Gartenmauer
hängt ein Schild mit der Aufschrift RESTORAN , das jetzt nicht leuchtet. Wir kommen
von hinten durch ein kleines Holzgittertor, das so aussieht, als stünde es
immer offen. Wir gehen einen Betonweg entlang. Unter einem Vordach aus grünen
Wellen stehen ein kleines Fahrrad mit Stützrädern und ein Motorroller, ein von
der Sonne ausgebleichter Piaggio, aus dessen Sattel Schaumgummistückchen ragen.
Dazu Konservendosen, Kästen mit Wasser und Bier und ein großes, schwarz gewordenes
Metallfass. Auf der Wäscheleine ein Mädchenbadeanzug und eine schlappe
Luftmatratze. Ein paar Schritte weiter einige
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