Das schönste Wort der Welt
bin kein
Mönch, Kleine …«
Als Gojkos Telegramm
kam, warf er seine Sachen in den Rucksack und rannte im strömenden Regen los,
einen Daumen nach oben gerichtet, falls ein Lastwagen vorbeikam, irgendein
Auto. Schließlich las ihn ein Jeep der Polícia Civil auf, und er reiste
kurzärmelig und nass durch den Wald, zwischen zwei großen, dunklen
Christenseelen, die nicht gerade wie Schutzengel aussahen, eher wie Teufel. Wenn sie nach Sarajevo kommt , sagte er sich immer wieder, heißt das, dass sie auch Sehnsucht nach uns
hat .
Er kommt mit dem Kopf
auf mich zu wie ein Stier, macht buh ,
fällt über mich her.
»Schenk mir deinen
Blick, verfluchtes Mädchen, reiß ihn nicht los … Diesmal schnappe ich dich.«
Der Schmerz hat ihn
männlicher gemacht, kühner. Er ist ein herangewachsener Halbstarker. Er zieht
mich vom Stuhl hoch, führt mich zum Tanz zu den anderen mitten auf die Wiese.
Er presst mich an sich wie ein Bräutigam. Seine Arme sind kräftiger geworden. Er
nimmt mich bei den Haaren wie einen Maiskolben, drückt mich auf seinen Mund,
atmet in meinen. Er sucht mich, bedrohlich wie ein Kaiman an der
Wasseroberfläche.
»Sieh mich an.«
Ich sehe ihn ja an.
»Ich liebe dich.«
Er tanzt wie ein
Gott, in seinen Armen bin ich ein Putzlappen, der sich führen lässt. Er hat den
geraden Rücken eines Flamencotänzers, ein geschmeidiges Becken und verrückte
Beine, die aus den Fugen geraten wie die von Michael Jackson. Wohin wird mich
dieser Wahnsinnige bringen? In welche Hölle? In welches Paradies? Unterdessen
möchte ich mich nicht von seinen Lippen lösen.
»Das wird ein Fest,
Kleine, jeder Tag ein Fest. Ich gebe dir alles, verlass dich drauf.«
Es wird dunkel, die
Sonne geht von der Wiese. Sebinas Kleidchen ist zerknittert, die Rüschen sind
schlaff, sie sieht aus wie ein milchverschmiertes Zicklein. Sie ist auf mir
eingeschlafen, schwitzt an meiner Bluse. Riecht nach kleinem Fleisch,
eingerollt in einen Himmel, der größer ist als unserer. Sie ist wie warmer
Leim, Honig im Schwamm eines Bienenstocks. Vor mir bewegt sich das Ungreifbare,
vom Summen eines Insekts mitgerissen … Das Gefühl, dass das Leben vergehen
wird, ein Ring im anderen.
Diego und Gojko
spielen Armdrücken auf dem Tisch, der jetzt leer ist, nur ausgetrunkene Gläser
stehen noch da und Speisereste, die die Frauen unter sich aufteilen, sie
spannen Geschirrtücher über rosarote Steinguttöpfchen.
Sarajevo ist weiter
weg, eingebettet zwischen seinen Bergen. Die Sonne erlischt, die letzten
Strahlen knistern. Die Stadt wirkt wie in Wasser getaucht. Als wäre alles, ihre
Häuser und ihre Minarette, wie durch Zufall, wie durch Zauberhand
zusammengewürfelt, angeschwemmt von einem Fluss, und als könnte es von einem
Moment zum nächsten wieder verschwinden. Wie wir, wie Sebina und wie alles, was
zu lebendig ist, um dauerhaft zu sein.
Wir nehmen uns ein
Zimmer in dem nach der Olympiade verwaisten Holiday Inn . Wir gehen zu Fuß hinauf, über die
langen Gänge, die rings um die Hotelhalle angeordnet sind. Der monumentale
Kronleuchter an der Decke sieht aus wie eine im Netz gefangene Meduse. Unten
ziehen die Kellner vorbei wie Algen in einem leeren Meer. Das Zimmer riecht
neu, nach Möbeln, die frisch aus der Fabrik kommen. Es gibt ein großes Bett und
ein großes Fenster zur Allee. Diego sagt, er müsse duschen, weil er stinke wie
ein Wiedehopf. Also warte ich auf ihn und schaue aus dem Fenster auf das
Viereck des Zemaljski Muzej mit seinem botanischen Garten neben der nagelneuen
Klippe des Parlaments. Er küsst mich von hinten, hat nasse Haare, das Wasser
läuft an mir herab. Wir lieben uns, fast ohne uns zu bewegen, angeklammert. Es
ist anders als neulich, wir sind schüchterner. Haben gelitten, haben Angst. Wir
trauen uns nichts mehr. Wir sind wie zwei Eheleute, die sich wiedersehen. Die
Angst haben, etwas falsch zu machen. Diego hat seinen Schwung verloren. Er hat die
Augen geschlossen. Ich hätte ihm sehr, zu sehr gefehlt, sagt er, und jetzt sei
er zu betrunken, um glücklich zu sein.
Danach küsst er mir
den verschwitzten Nacken, nimmt meine Haare von der Haut.
»Genau hier, weißt
du, hier im Nacken entsteht das Leben. Der Nacken ist ein Fluss, ist das
Schicksal.«
»Woher willst du das
wissen?«
Wir schlafen Fleisch
an Fleisch. Von oben sehen wir aus wie zwei in eine Schlucht Gestürzte. Wir
wachen im Morgengrauen auf, weil das Fenster schon lichtüberflutet ist. Wir
frühstücken auf dem Zimmer. Der Kellner klopft an und
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