Das schönste Wort der Welt
»Oh.«
»Wie hast du mich
eben genannt?«
»Keine Ahnung, wie
habe ich dich denn genannt?« Ich bebte, denn ich hatte es nicht einmal bemerkt.
»Entschuldige.«
»Du bist ja völlig
durch den Wind.«
Er verschwand schnell
im Bad, um von mir wegzukommen, von meinem vergangenheitsgepeinigten Körper.
Dann kam er wieder heraus und beugte sich über das Bett, um zu sehen, ob es
zufällig zwei waren, ob es sich teilen ließ. Ich sagte: »Wenn du willst, nehmen
wir ein anderes Zimmer, wir fragen nach einem mit getrennten Betten. Ich kann
auch nicht neben dir schlafen, du wühlst mir zu viel herum.«
Doch mir war zum
Heulen zumute.
Es regnet, trotzdem
sind viele Leute unterwegs, viele junge Leute. Wir sind in der Allee, die zur
Madrasa führt, und Gruppen muslimischer Schüler mit vollen Rucksäcken gehen
vorbei wie Schüler jeder anderen Schule auf der Welt. Der Schirm aus dem Hotel
ist das Letzte, ich muss aufpassen, dass ich keinem Passanten die Augen
aussteche. Ich bleibe stehen, um Pietro auch einen zu kaufen, Gojko will keinen
Schirm, er sei ihm lästig. Ich sage, dass es ab einem gewissen Alter ungesund
sei, sich die Knochen aufweichen zu lassen. Er brummt, dass ab einem gewissen
Alter alles ungesund sei, also brauche man sich nicht weiter darum zu kümmern.
Ich hake mich bei ihm unter.
»Schreibst du noch?«
Gern würde ich einige
von seinen Gedichten hören, von ihm gesprochen, mit dieser Stimme, die in
Gefühl und Absichten ertrinkt. Er senkt den großen Kopf, sagt, er habe vor
kurzem wieder angefangen, abends mit Wörtern herumzufuhrwerken.
Ich frage ihn, warum
er so lange gewartet habe. »Das ging nicht anders«, sagt er. »Dazu ist ein
bisschen weiße Zeit dazwischen nötig, ein bisschen Verbandmull; dazu ist nötig,
dass Gott dir hilft und mit deiner verschlissenen Seele nicht zimperlich ist. Dazu
ist nötig, dass er dir eines Tages ohne dein Wissen hilft, das Gleichgewicht
zwischen Gut und Böse wiederherzustellen.«
Er öffnet die Hand,
und ich weiß nicht, warum er hineinspuckt.
»Irgendwann bin ich
an einer Wiese vorbeigekommen, die rot von Mohnblumen war, und zum ersten Mal
dachte ich nicht an Blut, ich war fasziniert von dieser ungemein zerbrechlichen
Schönheit. Es brauchte viel weniger als eine Axt oder eine Maljutka-Rakete, es
brauchte nur einen Windstoß. Sie lag still für uns da, diese Wiese, wartend
hinter einer Kurve. Ein riesiges Feld, gesprenkelt mit roten Zungen, wie vom
Himmel ins Gras gefallene Herzen. Ich saß mit meiner Frau im Auto. Wir hielten
an und begannen zu weinen. Erst ich, und nach einer Weile folgte sie mir wie
ein Sturzbach. Dieses Weinen hat uns langsam ausgeleert, hat uns entschädigt.
Von diesem Abend an konnten wir wieder in die Brust atmen. Wir hielten das
wieder aus. Jahrelang war uns die Luft im Hals steckengeblieben, sie kam
einfach nicht tiefer … Zwei Monate später war meine Frau schwanger.«
Wir gehen weiter.
Mein Arm unter seinem ist in Sicherheit. Und nach einer Weile fühle ich mich
genauso wie damals bei unseren ziellosen Spaziergängen, als unsere Leben unter
dem Schirm dieser Freundschaft, die uns kühn machte, geschützt zu sein
schienen.
Eine Frau, die mit
ihrem Einkaufsnetz an mir vorbeigeht, wirkt wie eine x-beliebige Frau, in Eile
und darauf bedacht, nicht zu spät nach Hause zu kommen, doch sie hat den
merkwürdigen Gang eines versehrten Insekts, ihre Hüften schlingern unter der
für den Regen zu leichten Jacke schief wie ungleiche Räder an einem Auto, und
ihre Beine bewegen sich steif wie die Pendel einer Wanduhr. Allmählich geht mir
auf, dass hier überall solche Menschen sind, Menschen mit alten Granatsplittern
in den Knochen, und dass sie alle geübt darin sind, sich nichts anmerken zu
lassen und zwischen den anderen unterzutauchen.
»Das haben wir als
Allererstes gelernt.«
Ich sehe die Menschen
an und rechne aus, wie alt sie damals waren. Ob sie schon erwachsen oder noch
Kinder waren, rechne aus, wie viel ihnen der Krieg unterschlagen hat, rechne es
anhand der Augenringe, der glasstarren Blicke, der Zigaretten aus, die nass
zwischen den Fingern zittern. Ich rechne es anhand der regengrauen Gesichter
aus, die ich nun ansehe wie Tote, die wieder aus dem Meer auftauchen.
»Wir haben zu viel
Uran gefressen, zu viele von diesen verdammten humanitären Büchsen,
ausrangierte aus dem Koreakrieg.«
Immerhin sind die
Kinder, denen ich begegne, unversehrt, sage ich mir. Sie wissen nicht, haben
nicht gesehen, können sich also nicht
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