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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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Schlüssel erhalten hatten, war es wie der Eintritt
in ein Heiligtum. Wir streichelten die Wände, legten unsere Wange daran und
küssten sie. Ganz als wären sie lebendig, denn dieser Kalk und diese Ziegel
sollten nun unserem Leben Schutz bieten.
    Das einzige noch
verbliebene Möbelstück in der leeren Wohnung war ein altes, milchweißes
Klavier, für Damen, mit Blümchen vorn auf dem Aufsatz. Der Trödler, der die
Wohnung leergeräumt hatte, sollte es noch abholen. Diego öffnete den Deckel und
ließ seine Finger über die Tasten wandern.
    Er hatte es nie
gelernt, er spielte nach Gehör. Das Klavier war völlig verstimmt, doch für mich
war das die schönste Musik der Welt.
    »Was ist das?«
    »Was mir so einfällt,
Debussy, Leonard Cohen …«
    Seine Schulterblätter
bewegten sich unter dem erdfarbenen Baumwoll-T-Shirt, ein bisschen Sonne
benetzte den Fußboden. Der Straßenlärm blieb unten. Hier oben gab es nur das
kleine, milchfarbene Klavier und diese Hände, die es zum Leben erweckten. Die
Töne schwammen in den leeren Zimmern, sie tauften unsere Zukunft.
    Als der Trödler kam,
einigten wir uns mit ihm und behielten das Klavier für einen Spottpreis.
    Wir wechselten die
kaputte Badewanne aus und strichen die Wände, reparierten die Löcher in dem
alten Parkett. Wir brachten Stunden damit zu, mit dem Fön in der Hand den
Estrich zu trocknen. Mittags machten wir es uns auf dem Fußboden bequem und
aßen nach Bauarbeiterart ein Brötchen mit Presswurst, Mortadella und
Auberginen. Die besten Brötchen unseres Lebens. Eines Nachts liebten wir uns
auf den am Boden ausgebreiteten Zeitungen, und die Druckerschwärze färbte auf
unsere erhitzten Körper ab, ein Stück von einem sowjetischen Soldaten in
Afghanistan blieb auf Diegos Rücken tätowiert.
    Ich schenkte ihm ein
Poster, das er sehr gern hatte, Braque in seinem Arbeitszimmer, fotografiert
von Man Ray, ich ließ auch die Fotos rahmen, die mir am besten gefielen, die
Ultras vom Marassi-Stadion, den traurigen Marsch der antarktischen Pinguine und
ein Floß aus Laub auf dem Mekong, heimgesucht vom Flug blauer Käfer, und dann
die Bilder aus Sarajevo, das schlafende Neugeborene in einer Holzkiste auf dem
Gemüsemarkt.
    Die
Telefongesellschaft schloss ein graues Telefon an, das lange in einer Ecke auf
dem Boden stand.
    »Wie geht es dir,
mein Dichter?«
    »Wie geht es euch,
meine Turteltäubchen?«
    Gojkos
rauchzerfressene Reibeisenstimme kam über diese Leitung zu uns.
    »Ihr klingt
fröhlich.«
    »Das sind wir auch.«
    »Irgendwo auf der
Welt ist einer, der für euch arbeitet.«
    »Wer denn?«
    »Ein Dichter.«
    »Schickst du uns gute
Gedanken?«
    »Meine Gedanken … Ich
weiß nicht, ob die so gut sind.«
    Er lachte, wie nur er
lachte, in der Kehle, die ein Heiligtum zu sein schien oder ein Schrottplatz.
    Wir kauften uns ein
weißes Baumwollsofa, mit kleinen Rollen, die es in Bewegung setzten, kreuz und
quer durch das Wohnzimmer. Diego schrieb einen weiteren Scheck aus, er wollte
alles allein bezahlen. Dann entdeckte ich, dass er kein Geld mehr hatte und
seine Mutter zur Bank gelaufen war, um ihre Hafenarbeiterwitwenrente auf das
überzogene Konto ihres Sohnes zu überweisen. Meine Mutter schenkte uns einen
langen, kupfernen Schirmständer und sah mich mit ihrem ausgezehrten Gesicht an,
als wollte sie sich entschuldigen: »Wenigstens ist es etwas Praktisches.«
    Diego gab ihr zwei
lange, klebrige Küsse auf die Wangen.
    Nur an die
kümmerlichen Anwandlungen meines Vaters gewöhnt, wurde sie dunkelrot und ließ
sich reglos wie eine Puppe schütteln.
    »Bist du sicher, dass
er volljährig ist?«, raunte sie mir zu.
    »Nein, ich habe
seinen Pass nicht gesehen. Er hat ihn verbummelt.«
    Mein Vater trat ans
Fenster, ihm gefiel der Ausblick, die Tramschienen, die die Straße
durchschnitten, und die zwischen den Platanen zusammengedrängten Marktstände,
ihm gefielen sogar die Scharen kackender Vögel. Es war einer der alten Palazzi,
wie er sie liebte, er, der sein Leben lang in einem kleinen Wohnblock aus den
sechziger Jahren gelebt hatte, weil meine Mutter eine Garage wollte.
    Die Wohnung roch noch
nach Farbe, meine Mutter hustete, sah sich befangen um, hielt meinen Vater bei
sich, erlaubte ihm nicht, ins Schlafzimmer zu schauen. Diego lief barfuß hin
und her und holte belegte Brote und Schälchen mit Oliven und Lupinenkernen aus
der Küche. Meine Mutter starrte ihn an, wie man ein wildes Tier anstarrt,
fasziniert und entsetzt. Die Pasta schwamm in der Soße, und

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