Das schönste Wort der Welt
schlich
Diego bei Tagesanbruch hinaus und machte nach dem Regen Jagd auf Pfützen. Er
brachte Stunden auf den Knien zu, um im Spiegel einer Wasserlache einen
Palazzo, den Ast eines Baumes oder eine Ampel zu fotografieren. Ich folgte ihm,
packte die neuen Filme aus und steckte die alten in meine Taschen. Er konnte
stundenlang so bleiben. Autos fuhren vorbei und spritzten ihn nass. Er nahm keine
Notiz davon, ja er freute sich sogar über das aufgepeitschte Wasser, über die
zerstückelten Bilder, die wie explodiert aussahen. Er brachte die Fotos nicht
zum Entwickeln, stapelte die Filme auf dem Bartresen des Bootes und vergaß sie
dort. Manchmal kümmerte ich mich darum. Dann kam ich mit den gelben Kodak-Tüten
zum Boot zurück. Ich rief ihn und warf einen Stein. Er bedankte sich und
verstreute die Bilder auf dem Boden. Ging zwischen ihnen umher und schob eines
mit dem Fuß beiseite, um das darunterliegende zu mustern. Oft erkannte er seine
Arbeit nicht wieder, sie zu betrachten fiel ihm schwer. Es war, als brauchte er
diese Distanz, um sich selbst vom Leib zu bleiben. Er fischte zwei, drei Fotos
heraus und hängte sie mit Wäscheklammern auf die Leine, steckte die übrigen in
die Tüte zurück und überließ sie auf dem Tresen neben den Filmen ihrem
Schicksal.
Wir waren eines von
diesen schrägen Pärchen, auf die niemand auch nur einen rostigen Nagel gewettet
hätte. Von denen, die für eine Handvoll prächtiger Monate bestimmt sind und später
dazu, im Nu abzuschlaffen wie Diegos Locken, wenn es regnete. Wir waren
grundverschieden. Er schlaksig, ich immer ein bisschen steif, mit Säcken unter
den Augen und im strengen Mäntelchen. Doch die Monate vergingen, unsere Hände waren
auf der Straße noch immer ineinander verschlungen, und unsere Körper schliefen
nah beieinander, ohne sich lästig zu werden, wie zwei Feten in derselben
Fruchtblase.
Ein neues Jahr brach
an, ein neuer Wendepunkt. Ich wurde Publizistin, die holprige Zusammenarbeit
mit den Zeitungsredaktionen begann.
Diego blieb den
ganzen Winter über auf dem Boot. Er hatte eine rote Nase und war immer
erkältet, wenn ich ihn sah. Sich dort auszuziehen, war inzwischen unmöglich
geworden, wir liebten uns in einem Schlafsack, ich zog den Pullover nicht mehr
aus. Wir hatten uns eine Kiste Whisky gekauft und angefangen, ein bisschen zu
viel zu trinken, Schluck für Schluck, um uns aufzuwärmen, wie zwei Penner.
Dann half uns das
Schicksal mit dieser Wohnung. Wir entdeckten, dass sie von einer religiösen
Institution für eine moderate Summe zur Miete angeboten wurde. Eines Nachts
gingen wir hin, um sie uns anzusehen, wir drehten eine Runde unter den
versperrten Fenstern, zählten sie in der Dunkelheit und konnten kaum glauben,
dass es so viele waren. Sechs große Fenster im zweiten Stock eines schönen
umbertinischen Palazzos. Wir warteten auf den Kerl von der Verwaltung, und
eines Morgens im März gingen wir dort zum ersten Mal die Treppe hoch. Was soll
ich sagen? Es hatte den Anschein, als wartete die Wohnung auf uns. Denn auch
Wohnungen warten auf ihre Insassen, sie leben jahrelang weit von uns entfernt,
und dann öffnen sie ihre Arme, die Türen und Fensterläden, für ein junges Paar,
für zwei glückbebende Schwachköpfe. Und jetzt fällt mir dieses Herz wieder ein.
Es war auf dem Treppenabsatz mit einem Nagel in den Putz gekratzt, daneben ein
Pfeil, der zur Tür zeigte. Der Hauswart erzählte uns, in der Wohnung hätte
jahrzehntelang nur ein altes, kinderloses Ehepaar gelebt. Wer hatte dieses Herz
eingeritzt? Ein Neffe? Ein Kind aus dem Haus? Ein Bettler, der ein großzügiges
Almosen von den beiden hutzeligen Alten bekommen hatte? Ich weiß es nicht, und
es ist auch nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass dieses Herz dort war und über
Jahre dort blieb, bis dann der Putz erneuert wurde und ich fuchsteufelswild wurde,
weil ich an dem Tag leider nicht zu Hause war, als die Arbeiter die Wand an
unserem Treppenabsatz verputzten.
Diego zog sein
Scheckheft hervor und bezahlte die Kaution und drei Monate im Voraus, wobei er
den Scheck im Stehen an der Wand ausstellte, mit einem Stift, der nicht
schrieb. Sein Gesicht war rot und verschwitzt.
»Hast du denn so viel
Geld?«, fragte ich ihn, als wir die Treppe hinuntergingen.
»Wir wollen es
hoffen.«
Es war eine angenehme
Wohnung, eine Zeugin von zurückhaltenden, sparsamen Leben, von Lichtern, die
früh gelöscht wurden, um keinen Strom zu verbrauchen. Als wir allein waren, das
erste Mal, nachdem wir die
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