Das schottische Vermächtnis: Roman (German Edition)
Schatten von Slains hinter sich. Vor ihnen lagen weite grüne Hügel, die sich bis zu den schwarzen Klippen erstreckten, und darunter leuchtete das Meer vor dem sonnenhellen Horizont.
Kirsty blieb einen Moment stehen, um den Ausblick zu genießen. »Der Tag gehört uns«, sagte sie, und auch Sophia freute sich über die ungewohnte Freiheit.
Nach einer Weile erreichten sie einen hoch über dem Meer aufragenden Felsen mit dem Kot von allerlei Seevögeln, die flügelschlagend zu ihren Nestern zurückkehrten. Er heiße in der Gegend »Dun Buy«, »gelber Felsen«, erklärte Kirsty Sophia, und gelte als Sehenswürdigkeit.
Hugo interessierte sich sehr für den Felsen und die Vögel, doch Sophia fasste die Leine kürzer und zog ihn weg.
Ein kleines Stück weiter gelangten sie an einen runden Schacht wie von einem riesigen Brunnen mit vom Meer ausgehöhlten Wänden. Offenbar hatte sich irgendwann der obere Teil gelöst, so dass nur noch eine Art Steinbrücke den Eingang der Ausbuchtung überspannte, gegen die die Wellen mit solcher Gewalt donnerten, dass das Wasser brodelte.
Nach einem kurzen Blick hinunter trat Kirsty einen Schritt zurück. »Das ist Bullers o’ Buchan«, erklärte sie. »Wir sagen auch ›The Pot‹ dazu. Oft verstecken sich Schiffe, die von Freibeutern gejagt werden, darin.«
Hier, dachte Sophia, als sie das tosende Wasser betrachtete, würde sie sich nicht verbergen wollen.
»Komm weg da«, sagte Kirsty und zog an Sophias Umhang. »Ich krieg Schwierigkeiten, wenn du hineinfällst.«
Widerstrebend trat Sophia vom Klippenrand zurück.
Etwa eine Viertelstunde später erreichten sie das Cottage von Kirstys Schwester, setzten sich an den Kamin und bewunderten Kirstys jüngsten, mittlerweile zehnmonatigen Neffen, dessen Wangengrübchen jenen seiner beiden Schwestern und seines älteren Bruders, alle noch keine sechs Jahre alt, ähnelten. Ihre Mutter ließ sich durch die Kinderschar nicht aus der Ruhe bringen. Wie Kirsty hatte sie eine helle Gesichtsfarbe, redete schnell und lächelte gern, und tatsächlich schmeckte ihr Grünkohl besser als alles, was Sophia jemals probiert hatte.
Die Kinder spielten furchtlos mit Hugo, obwohl er mit seinen kräftigen Kiefern die Knochen eines Mannes hätte zermalmen können. Der Mastiff, der majestätisch vor dem Kamin ruhte, ließ sich einfach alles gefallen.
Die Stunden vergingen wie im Flug, und als sie Kirstys Schwester am Nachmittag verließen, stellte Sophia fest: »Sie wirkt sehr zufrieden.«
»Aye, sie hat ihren Mann gut gewählt. Er tut alles für die Farm und seine Familie und ist nicht auf Abenteuer aus.«
»Anders als Rory?«, fragte Sophia mit hochgezogener Augenbraue.
»Woher soll ich das wissen?«
»Kirsty, ich hab Augen im Kopf.«
Die Magd wurde rot. »Aye, aber daraus wird nichts. Ich möchte Kinder und ein eigenes Zuhause, und Rory will hinaus in die Welt. Mit einem solchen Mann baut man sich keine Zukunft auf.«
»Mein Vater war ein solcher Mann«, erklärte Sophia. »Er hatte immer Sehnsucht nach dem Meer und den Wellen, die ihn zu fremden Ufern tragen würden.«
»Hat er seinen Traum wahr gemacht?«
»Nein.« Als der Mastiff an seiner Leine zerrte, um an einem Grasbüschel zu schnüffeln, verlangsamten die beiden ihre Schritte. »Er ist auf dem Weg nach Darien gestorben. Man hat seine Leiche einfach über Bord geworfen.«
Das Darien-Desaster kam einer nationalen Katastrophe gleich, und seine Erwähnung ernüchterte Kirsty wie alle Schotten, die ihre Hoffnungen auf künftige Reichtümer durch die Kontrolle des Indienhandels in diese Siedlung zwischen Süd- und Zentralamerika gesetzt hatten.
»Das muss ein schwerer Schlag für deine Mutter gewesen sein«, sagte Kirsty.
»Sie hat nie davon erfahren.« Lange Monate waren vergangen, bis Gerüchte über das Scheitern des Darien-Experiments nach Schottland gelangten. In der Zwischenzeit hatte sich bereits eine zweite Welle von Siedlern auf den Weg gemacht, unter ihnen auch Sophias Mutter. »Zum Glück«, erzählte sie Kirsty, »hat sie die Überfahrt nicht überlebt.« Und diejenigen, die sie überstanden, wurden enttäuscht, weil ihre neue Heimat statt der erhofften Reichtümer nichts als Krankheiten und Tod bot.
James und Mary Paterson waren nur zwei von zahlreichen Opfern des Darien-Projekts.
»Wie hast du den Verlust verkraftet?«, fragte Kirsty.
»Nun, ich war jung«, antwortete Sophia und verschwieg die vielen schrecklichen Dinge, die sie in den folgenden Jahren erlebt hatte, weil
Weitere Kostenlose Bücher