Das schottische Vermächtnis: Roman (German Edition)
englischen boiler , und dass sich früher in der höhlenartigen Ausbuchtung kleine Schiffe vor Freibeutern oder der schottischen Küstenwache versteckt hätten.
Ich lauschte seinen Ausführungen äußerlich ruhig, doch in meinem Innern brodelte es wie in den Bullers unter mir. Graham war gerade dabei, mir zu schildern, wie er und sein Bruder als Kinder mit dem Fahrrad einmal am Rand des Schachts entlanggefahren waren und er beinahe auf dem schmalen Pfad nicht weit von der Stelle, an der wir nun standen, die Kontrolle über seinen Drahtesel verloren hätte, als er mich plötzlich fragend ansah.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich.
»Ich habe ein bisschen Höhenangst«, schwindelte ich.
»Keine Sorge, ich lasse Sie schon nicht runterfallen«, versicherte er mir mit einem Piratenlächeln.
Zu spät: Ich befand mich bereits im freien Fall. Allerdings konnte ich ihm nicht erklären, was ich auf dem Weg hierher empfunden hatte, denn sonst hätte er vermutlich das Weite gesucht.
Dieses Déjà-vu-Gefühl verließ mich auch auf dem Rückweg nicht und verstärkte sich sogar noch, als ich die Ruine von Slains erblickte. Ich hatte erwartet, dass Graham vorschlagen würde, bei seinem Vater vorbeizuschauen, doch er begleitete mich ohne Zwischenstopp zum Cottage.
Ich bedankte mich bei ihm für den schönen Spaziergang.
»Freut mich, dass er Ihnen gefallen hat«, sagte er. »Ich habe ihn auch genossen.«
Ich räusperte mich. »Kommen Sie noch auf einen Kaffee mit rein?«
»Das geht heute leider nicht. Ich muss zurück nach Aberdeen, noch einen ganzen Stapel Seminararbeiten korrigieren.«
»Oh.«
»Aber wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen nächstes Wochenende mit dem Wagen die Gegend.«
»Ja, gern«, antwortete ich sofort.
»Wann passt’s Ihnen besser, am Samstag oder am Sonntag?«
»Das überlasse ich Ihnen.«
»Dann sagen wir doch Samstag. Wir holen Sie um zehn ab, wenn Ihnen das nicht zu früh ist.«
»Wir?«, fragte ich.
»Angus und ich. Er liebt Autofahren und würde es mir nie verzeihen, wenn ich ihn nicht mitnähme.«
Lächelnd sagte ich ihm, dass zehn Uhr in Ordnung sei, bedankte mich noch einmal und verabschiedete mich von ihm, bevor ich das Cottage betrat.
Von der Küche aus beobachtete ich, wie er einen kleinen Stein vom Weg aufhob, in Richtung Meer schleuderte und den Hügel zur Straße hinuntermarschierte.
Ohne allzu große Hoffnungen setzte ich mich zum Schreiben hin, weil ich den Traum der vergangenen Nacht mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr heraufbeschwören konnte.
Doch sobald meine Finger die Tastatur des Computers berührten, schrieb sich der Text fast wie von selbst. Das war mir in all den Jahren meiner Autorentätigkeit noch nie passiert. Ich kam mir vor wie ein Medium, durch das sich die Geschichte aufs Papier ergoss.
Ich sah das anzügliche Grinsen des Gärtners Billy Wick vor mir und das Lächeln von Kirstys Schwester in ihrem Cottage, wie die Kinder mit dem Mastiff spielten, und ich spürte Sophias Trauer, als sie von ihren Eltern erzählte, ihre Erregung, als sie das Schiff vor Slains entdeckte, und schließlich ihre Verwirrung, als sie mit Kirsty zum Haus rannte.
Und in der Nacht setzte sich die Geschichte fort.
4
Sie betrachtete gerade im Spiegel ihre vom Wind zerzausten Haare und roten Wangen, als Kirsty atemlos an die Tür ihres Zimmers klopfte, um ihr zu sagen, dass sie sich zur Countess im Salon gesellen solle.
»So kann ich nicht gehen«, meinte Sophia.
»Och, du siehst gut aus. Nur die Haare musst du dir ein bisschen richten.« Und schon half sie ihr, die wilden Locken zu zähmen und zurückzustecken. »Du darfst sie nicht warten lassen.«
»Aber mein Kleid ist schmutzig.«
»Das fällt ihr gar nicht auf«, beruhigte Kirsty sie. »Geh.«
Unten streckte die Countess, die am Fenster stand, Sophia lächelnd die Hände entgegen. »Heute kommt Besuch, der wahrscheinlich einen Monat oder länger bleiben wird. Ich möchte, dass du bei mir bist, wenn ich ihn begrüße.«
»Das ist eine große Ehre für mich«, sagte Sophia erstaunt und gerührt.
»Du gehörst zur Familie«, erwiderte die Countess. »Da ist es nur recht und billig, dass du an meiner Seite bist, wo meine Töchter stehen würden, wenn sie nicht schon verheiratet und aus dem Haus wären.« Sie schwieg einen Augenblick nachdenklich. »Sophia, in den nächsten Monaten wirst du in diesen Mauern vieles sehen und hören. Lass dich davon nicht aus der Ruhe bringen.«
Da erklangen vom Flur her
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