Das Schützenhaus
daß sie nicht begreife, was um sie her vorgehe, für eine Großmutter – Horst und Helga hatten sie dazu gemacht oder Anneli und ich – sei alles eine Zumutung. Doch stieß sie mit uns an, als mein Vater Sekt spendierte und das Schützenhaus, »unser« Schützenhaus, hochleben ließ. Als sei’s eine Person.
Seine Großzügigkeit kannte damals keine Grenzen. Er hatte der Kintoppgesellschaft eine entsprechende Summe geliehen, so daß unsere OHG als Käufer aufgetreten war. Annelis Ausruf widerfuhr Realisierung, wir wohnten jetzt wirklich »in unseren eigenen vier Wänden«.
Taufen waren ein bißchen aus der Mode gekommen, eine Tatsache, die bei uns eine Trotzreaktion hervorgerufen hatte. Horst war in Lindow getauft worden. Und zu Helgas Taufe kamen wir hier, im Schützenhaus, zusammen. Ein Ereignis trübte unsere Freude. Arthur und Lorchen, jene Verwandten, die wir einmal flüchtig kennengelernt hatten, erschienen nicht. Opa berichtete, Arthur, der Rundfunksprecher, sei abgeholt worden. Näheres wisse man nicht. Lorchen, in tiefstem Gram, gehe nicht aus der Wohnung.
»Das muß man verstehen«, sagte Opa. »Es ist furchtbar. Doch wollen wir uns die Freude am Fest nicht trüben lassen. Das Kindchen kann nichts dafür, und es soll nichts von diesen gräßlichen und unmenschlichen Dingen spüren.«
Er rückte die Brille hoch, und es ist wahrscheinlich, daß er sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte.
Wir hatten eine Haustaufe arrangiert. Tante Deli hatte obenim sogenannten Eßzimmer die Anrichte mit einem weißen Damasttuch aus Omas Erbe bedeckt und diesen improvisierten Altar mit Myrtenzweigen geschmückt. Der Pfarrer, ein junger Mensch, Nachfolger jenes Himmelblickers, der uns die Konfirmandenstunden verekelt hatte, kam auf einem Motorrad. Taufbecken und Kruzifix brachte er im Rucksack mit.
Laura hielt das Baby. Als zweite Patin hatten wir Kitty geladen, sie erschien ohne Zigarettenspitze.
Helga erhielt zusätzlich die Namen Laura und Kitty. Das war unzeitgemäß, aber uns gefiel es.
Der Pfarrer, als sei er unser langjähriger Verbündeter, gab dem Kind einen optimistischen Spruch mit auf den Lebensweg: »Wache auf, wache auf, Debora! Wache auf, wache auf, sprich ein Lied!«
»Richter fünf, zwölf«, sagte zu unser aller Erstaunen Kitty.
Der Pfarrer nickte. Niemand störte es, daß Opa brummelte: »Fürchterlich. Wenn se nu Sängerin wird?«
Das Fest, unser letztes großes Fest für lange Zeit. Die Schützengilde hatte sich ausgedacht, als Geschenk für Helga ein Damen-Luftgewehr zu überreichen, was viel Gelächter erregte. Schonicke schleppte das Paket an und freute sich über unser Erstaunen. »In der Tat, ein ungewöhnliches Geschenk«, fühlte ich mich als Vater verpflichtet zu bemerken. Schonicke meinte: »Möge unsere Gabe dem Kind lebenslang hohe Treffsicherheit verleihen.«
An seinem Arm hing Lieschen Radke, in einer Phantasie-Schützinnen-Uniform, sie sah aus wie eine Kreuzung von Robin Hood mit einem uckermärkischen Wilderer – einer war in der Zeitung abgebildet gewesen.
Auf die Stufen zur Veranda hatten wir ein Schild gestellt:
»Heute wegen Familienfeier geschlossen«.
Das hatte einige Wanderer nicht abgehalten, sich angesichts des schönen Wetters im Wirtsgarten niederzulassen. Mein Vater ließ sie mit Freibier bewirten, sie wußten nicht, wie sie zu dieser Ehre kamen, und freuten sich. Ihre Blicke ruhten auf dem Transparent an der Kinofassade, das die Wiedereröffnung nachRenovierung ankündigte. Links sah Adele Sandrock auf die Wanderer herab und rechts Willy Birgel.
Die entsprechenden Ankündigungen lauteten:
Montag bis Donnerstag: Adele Sandrock in »Alles hört auf mein Kommando«. Mit Marianne Hoppe, Wolfgang Liebeneiner, Georg Alexander, Wilhelm Bendow u.a.
Freitag bis Sonntag: Willy Birgel in »Barcarole«. Mit Lida Baarova, Gustav Fröhlich, Harry Hardt, Hubert von Meyerinck.
Lida Baarova, raunte man in Berlin, hatte gerade ein Techtelmechtel mit Goebbels. »Der erste menschliche Zug, den ich an unserem Propagandaminister entdecke«, hatte Werner geulkt, mit Verlegenheit in der Stimme, er tat Verbotenes. »Auf deine Bemerkung steht Oranienburg«, hatte denn auch mein Vater – wieder einmal – gewarnt.
Doch an jenem Tag, dessen Hauptheldin Helga Kitty Laura war, verdrängten wir die Schatten. Wir wollten feiern. Noch einmal groß feiern. In der Gaststube, die an diesem Tag der Familie, ausschließlich der Familie gehörte, war die lange Tafel gedeckt. Auf
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