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Das Schützenhaus

Das Schützenhaus

Titel: Das Schützenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lentz
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allgemeinen Wunsch hatte Großvater den Vorsitz übernommen. Am anderen Ende des Tisches saß Anneli, den Täufling im Arm. Horst kroch unter dem Tisch herum und atmete den säuerlichen Geruch von verschüttetem Bier ein, wie es vor ihm Huberts Mathilde und Ede Kaisers Karl getan hatten.
    Sie beide und etliche andere Kinder aßen an einem Extratisch, wo die Norne Wache hielt. Sie war, kein Zweifel, ein liebes Mädchen. Und Joachim – vielleicht uns allen – ergeben. Zum ersten Mal sah ich sie in einem Zivilkleid aus tiefrotem Samt. Um den Hals trug sie eine Perlenkette gewickelt, ich konnte nicht unterscheiden, ob es sich um echte oder unechte Perlen handelte. Zudem hatte die Norne ihre Zöpfe abgeschnitten. Werner kommentierte dies: »Sie sieht fast wie ein Mensch aus«, rief er und deutete ungeniert mit dem Zeigefinger auf Isabella.
    Sie saß eingerahmt zwischen den Kindern in Matrosenkleidchenund Matrosenanzügen, ein fast nostalgisches Bild, ungewohnt auf jeden Fall in einer Zeit, da man bereits die Zehnjährigen in Uniform steckte.
    Auch Lydia und Robinson Krause saßen mit am Tisch, heute waren sie Gäste. Papa Warnicke hatte Personal zur Verfügung gestellt. Er saß am Tisch, neben ihm die andere, Papa Warnickes Lydia, in einem brettsteifen schwarzen Kleid mit Keulenärmeln. Sie zeigte ihre metallschweren Zähne, wenn sie lachte, und heute lachte sie oft. Ab und zu sprang sie auf und sah in der Küche nach dem Rechten. Jedesmal sprang dann auch Tante Deli auf, wurde aber von Lydia auf den Stuhl zurückgedrückt.
    Ich saß neben Anneli. Seit jenen Tagen, als sie den Lederkoller getragen hatte, saß sie kerzengerade. Sie behauptete, es würde sie schmerzen, wenn sie nicht so starr dasäße. Außerdem sei es vorbildlich für unsere Kinder, beizeiten würden sie lernen, daß man gerade am Tisch zu sitzen habe.
    Woher nun dies? Nachdem wir all die vielen Jahre uns auf die schlampigste Art und Weise an den Tisch gelümmelt hatten? Doch bevor ich meiner Verwunderung Ausdruck verleihen konnte, flüsterte mir Anneli ins Ohr: »Findest du es schlimm, daß wir nicht verheiratet sind?«
    In der Tat. Wir waren es nicht. Ich schüttelte den Kopf und lächelte. Mir war es gleich, ich war meiner Liebe zu Anneli sicher, endlich sicher. Und ich wußte, daß es, von Anneli aus betrachtet, genauso aussah.
    Damals – wie lange war das her? –, als Anneli feststellte, daß sie schwanger war, hatten wir Tante Deli und meinem Vater verkündet, daß wir zusammenbleiben würden. Tante Deli hatte sofort begonnen, unser Glück zu organisieren, in der Hoffnung, daß sie Myrtensträußchen für ihre Tochter, die Braut, binden könnte. Dann jedoch stellte sich heraus, daß Anneli und ich wegen der Heirat meines Vaters mit Annelis Mutter vor dem Gesetz in einen derart nahen Verwandtschaftsgrad zueinander geraten waren, daß uns die Heiratserlaubnis trotz Annelis Schwangerschaft verweigert wurde. Strenggenommen, glaube ich, lebten wir in Blutschande miteinander, und wir mußtenfroh sein, daß die Behörde uns nicht obendrein anzeigte und strafrechtliche Verfolgung veranlaßte.
    Wir hatten uns an den Zustand gewöhnt und konnten darüber lachen. Tante Deli brauchte ein bißchen länger für die Gewöhnung. Wir zogen dann in den umgebauten Pferdestall und führten unseren Haushält, gingen selten noch zum Essen in die Gaststube hinüber. Unsere Zimmer dort wurden zu Gästezimmern umgewandelt, denn immer öfter kam jetzt Opa von Lindow herüber, meistens in Begleitung Tante Friedas, die behauptete, alleine an dem Riesensee werde ihr plümerant zumute. Sie paßte zu unserem Oblomow-Vater. Wie er liebte es Lauras Mutter, sich im Bett mit Lesestoff einzurichten. Sie trug blaue oder rote chinesische Morgenröcke mit aufgestickten goldenen Drachen. Da sie nach wie vor Magazine bevorzugte, die das Leben jener eleganten Welt schilderten, die wir in unserem Vorort allenfalls vom Hörensagen kannten, gewann sie Anneli, die Norne und auch Lydia als Freundinnen. Die Magazine machten die Runde, und die Frauen verfügten über Gesprächsstoff.
    Zuweilen reisten auch Laura und Onkel Rudolph an, ein Paar, dessen Kleidung sich durch Eleganz auszeichnete – im Verhältnis. Laura trug gerne Jackenkleidchen und winzige Hüte, die sie selbst mit allerlei Merkwürdigem garnierte, kleinen gelben Küken etwa, wie sie Osterhasennester von Kindern zierten, oder einer Kette bunt eingewickelter Bonbons. Einmal hatte sie ein kleines gelbes Spielzeugauto aus Blech auf

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