Das Schützenhaus
Gang.«
»Hilf mir«, sagte Anneli. Sie setzte sich im Bett auf und krempelte ihr Nachthemd über den Kopf. Sie saß da, mit ihren Mäusefäustchen, die Brustwarzen dunkel-rot. »Mach schon«, sagte sie. »Ich kann das olle Ding nicht mehr umhaben.«
Ich öffnete die Schnallen. Das Leder faßte sich hart an, aber es war durchwärmt. Es fiel auf den Boden neben dem Bett. »Ich will meinen Kopf auf deinen Arm legen«, flüsterte Anneli. »Das ist besser als das Ding.«
18
Die folgenden Jahre stürzen in meiner Erinnerung zu einem einzigen, ungegliederten Ablauf zusammen. Ich könnte genausogut von einer Ewigkeit wie von wenigen Sekunden sprechen, halsstarrig und widerspenstig würde ich mich jedem gegenüber zeigen, der versuchte, mich darauf hinzuweisen, daß diese Jahre gegliedert gewesen seien, durch Ereignisse, in aller Erinnerung eingeprägt. Wie aber soll ich von jenem Zeitraum berichten, der an seinem Anfang markiert ist durch den Glanz der Olympischen Spiele und an seinem Ende durch einen aus Smolensk stammenden Feldpostbrief Joachims?
Dort Jesse Owens, der Neger, der sich angesichts vertausendfachter nordischer Rasse vier Goldmedaillen holt. Und sechs Jahre später Joachims Schilderung, wie sein fahrbares Frontkino die ausgefahrene Rollbahn entlangholpert, nach Osten, nach Osten …
»Wir sind jetzt vier Tage unterwegs, kaum eine Rast«, schrieb Joachim. »Jetzt werden wir in der Verteilerstelle mit neuen Filmrollen ausgerüstet. In Smolensk gibt es, in einem verschnörkelten Ballsaal aus der Jahrhundertwende, ein standortfestes Frontkino. Mein Fahrer und ich haben frei. Wir hüten uns, in dieses Kino zu gehen. Wir möchten zwei Tage lang nichts von Kino, nichts von Film wissen …«
Ich halte diesen Brief in der Hand, blaues, ausgeblichenes, vergilbtes Papier. Meine Gedanken drängen sich zusammen, vor mir entsteht wieder die kleine Welt des Vorortes, in dem wir lebten, die Insel, die »unser« Schützenhaus darstellte.
Denn »unser« Schützenhaus war es auf einmal.
Eines Tages war Hubert, der Bierfahrer, gekommen, nun in seiner neuen Eigenschaft als Leiter der Schultheiß-Patzenhofer-Niederlassung. Diese Karriere war ihm beschieden, obwohl er sich weigerte, der Partei oder einer ihrer Organisationen beizutreten, in jener Zeit ein Wunder.
Hubert hatte den Vorschlag der Brauerei unterbreitet, uns das Schützenhaus zu verkaufen. Dort wollte man sich von der Immobilie trennen, die geringen Wert hatte in den Augen der Zuständigen der Brauereiverwaltung. Stadtrandlage, Baufälligkeit, vielleicht noch andere, uns unbekannte Gründe mochten die Entscheidung der Brauerei begünstigt haben,
»Sie wollen das Schützenhaus los sein«, sagte Hubert. Er trug seine alten Manchesterhosen, bräunlichgrün mit einer Art Pfeffer- und Salzmuster darübergestreut, an den Knien abgeschabt und immer noch jenen Geruch nach Pferden ausströmend, der ihr aus der Zeit anhaftete, als er mit seinem Bierfuhrwerk bei uns vorfuhr und Fässer ablud, indem er sie auf ein auf den Boden gelegtes Lederpolster springen ließ. Obenherum trug er allerdings nicht mehr die weiße Bierfahrerjacke, sondern ein dunkles Jackett aus glänzendem Stoff und zum gestreiften Oberhemd Umlegekragen und Schlips.
»Und der Preis«? fragte mein Vater. Hubert nannte eine Summe. Ich habe vergessen, welche, aber ich erinnere mich, daß der Preis niemanden erschreckte.
Tante Deli, die bei allen Entscheidungen mitredete, seit sie Frau Pommrehnke war, lief noch einmal zu voller Form auf, als sie uns das Für und Wider darstellte:
»Es kommt plötzlich«, sagte sie, in der Tür stehend, sie rieb den Fuß des Spielbeins am Standbein, daß der Kunstseidenstrumpf Marke Bemberg knisterte. »Angenommen, man kauft diese Klitsche. Was sind die Folgekosten? Den Kinosaal hat der Holzwurm angenagt, die Dachpappe richtet sich nach allen Seiten auf wie die Schuhsohlen eines Landstreichers. Du erinnerst dich, Walter, an das Gemälde, das wir bei Vater Warnicke sahen? Die beiden Penner, einer tanzt um einen blühenden Baum, der andere liegt drunter und poft, im Gras eine leere Flasche. Und die Schuhsohlen. Ich möchte wissen, ob er das Bild noch hat, wir waren jahrelang nicht bei Warnicke. Warum nicht? Damit komme ich zu Punkt zwei. Die Arbeit wächst uns über den Kopf. Personal ist nicht. Lydia wird kreuzlahm, ich will dahingestellt sein lassen, ob die viele Arbeit daran Schuld ist oder dieFreizeitbeschäftigung mit ihrem SA-Mann. Krause bekommt graue Haare.«
Sie
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