Das Schützenhaus
grünblind? Wer hatte mir das vererbt? Der Arzt hatte mich aufgeklärt, daß diese Sehschwäche sich, jeweils eine Generation überspringend, in der männlichen Linie vererbte. Horst würde aller Wahrscheinlichkeit nicht rot- und grünblind sein.
»Sieh auf meine Schürze«, sagte Anneli. »Welche Farbe hat sie?«
»Grün, verdammt noch mal. Ich sehe, daß sie grün ist. Ich habe nur auf den verdammten Farbtafeln nichts erkennen können. Ich sehe, wenn eine Verkehrsampel grün ist. Ich sehe, wenn sie rot wird, zum Himmeldonnerwetter. Aber anscheinend reicht das fürs Fliegen nicht.«
»Mach dir nichts draus«, sagte Anneli. »Vielleicht ist es besser, wenn wir uns mit Überleben beschäftigen.«
Für ein paar Wochen sperrten sie mich in eine Kaserne, zur Grundausbildung. Nach ein paar Tagen wußte ich, wie ein Grashalm in unmittelbarer Nähe der Nasenspitze aussah. Liegestütze, als Strafe verhängt, fielen mir von Woche zu Woche leichter.
Sie teilten mich zu einer neu zusammengestellten Jagdfliegerstaffel ein, die in der Nähe des Westwalls eingesetzt wurde. Ich kurbelte, im verölten Drillich, die Motoren der Me 109 an. Hängte den Piloten die Fallschirme um. Keiner von ihnen war über die Stillingschen Farbtafeln gestolpert. Herr Stilling, der diese Tafeln erfunden hatte, war mein Feind.
Der Frankreichfeldzug begann. Mehrere Male wurden wirverlegt. Zuletzt schaufelte ich Bombentrichter auf einem Fliegerhorst in der Nähe von Amiens zu, die unsere Stukas eine Woche vorher verursacht hatten. Die Flugzeuge des Feindes standen als ausgebrannte Gerippe am Rand des Platzes. Sie waren, wie es in den Meldungen hieß, am Boden zerstört worden. Die Redewendung ging erst in den Landser-, dann in den allgemeinen Sprachschatz des deutschen Volkes über. Bald fühlte sich dieser oder jener »am Boden zerstört«.
Unteroffizier Klingbeil kam aus der Kinobranche wie ich. In Prenzlau betrieb er, bis er eingezogen wurde, ein Lichtspielhaus. Auf dem Fliegerhorst wirkte er als Halbgott, Herr über Urlaubsscheine und Sondergenehmigungen. »Haben Sie alle Knöppe dran, Pommrehnke?« fragte er. Ich brüllte: »Jawohl, Herr Unteroffizier.« Er winkte ab. »Drosseln Se Ihren Lautsprecher. Sonst fällt die Leinwand um.« Er musterte mich: »Ich habe einen Marschbefehl für Sie. Nach Berlin. Drei Tage Urlaub kann ich rausschinden.«
»Nach Berlin? Was soll ich da?«
»Sie sind nicht der einzige. Was weiß ein Fremder? In einer Stunde Appell. Ihr Zug geht morgen früh von Amiens.«
Der Waggon war gerammelt voll. Im Gepäcknetz über mir lagen ein Zwillings-MG und ein Oberschnapser. Auf den Bänken drängten sich acht Leute, zwei weitere hockten auf Kisten dazwischen. Ich drängelte mich hinein. »Auch das noch, die Luftwaffe«, maulte der Oberschnapser. »Kannste nich mit dem Flugzeug reisen? Oder baut Meier seine Ju 52 zu Wohnlauben um?«
Er meinte Hermann Göring, unseren Reichsluftmarschall, der gesagt hatte, wenn ein einziger Feindbomber die Reichshauptstadt erreiche, wolle er Meier heißen. Inzwischen flogen fast allnächtlich feindliche Bombengeschwader Berlin an.
Einige Fenster im Waggon fehlten oder ließen sich nicht schließen, weil die Lederriemen abgeschnitten waren. Wir froren. Hüllten uns in Decken. Schnapsflaschen kamen zum Vorschein. Uns schien die Reise endlos. Mehrmals hielten wir in der Nacht auf Abstellgleisen. An der Ausdehnung der Gleisanlagenerkannten wir, daß wir größere Städte passierten. Wegen der Verdunklung schimmerte kein einziges Licht. Einmal hielten wir auf freier Strecke. Die Flak schoß. Nach einer Stunde schlich der Zug weiter.
Den Rhein verpaßten wir, aneinandergelehnt schliefen wir auf unseren Kästen und Rucksäcken. Ab und zu stand einer auf, bahnte sich den Weg über die anderen hinweg. Bärtige, bleiche Gesichter. Einmal, der Zug hielt auf einem kleinen Bahnhof, teilten Rote-Kreuz-Schwestern Ersatzkaffee aus.
Wohin würden sie mich stecken? Wieso war ich von dem Fliegerhorst abkommandiert? Würde mein Vater seine Vermutung bestätigt sehen, daß Hitler seinen Pakt mit Stalin brechen und Rußland angreifen würde? Hieß das für mich: Ostfront?
Zu Hause weichte Anneli mich in der Badewanne ein. »Du riechst nach Schmutz und Eisenbahn«, hatte sie gesagt. »Aber das macht nichts. Es ist wunderbar, daß du da bist.«
Ich lag im warmen Wasser, das Gesicht voll Seifenschaum, und kratzte mir den Bart ab.
Meine Zivilklamotten sahen lächerlich an mir aus. Als ich in den Spiegel
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