Das Schützenhaus
witzig, daß wir da standen.
Wenn Joachim einen mutigen Tag hatte, gingen wir in die Eis-Anneliese. Ein paar von den Mieken oder »Lyzen« waren da immer zu finden, und wenn wir Glück hatten, das heißt, wenn Joachim Glück hatte, ließ sich eine zum Eis einladen. Er hatte eine Favoritin, Hannelore, mit einem dicken blonden Zopf und Kulleraugen. Blauen Kulleraugen. Was Joachim an der fand, war mir nicht klar. Ich kaufte mir mein Eis selber und stand überflüssig daneben. Kleckerte mit dem Eis. Hörte mir ihre Konversation an, die aus dem Irrenhaus entlehnt schien:
»Magst du Mathe?«
»Ich kann damit nichts anfangen.«
»Ich auch nicht. Wir haben so ’nen doofen Lehrer. Er trägt immer Knickerbocker. Und Schlipse mit Blümchen drauf.«
»Unserer schmeißt mit Kreide. Außerdem niest er dauernd.«
»Ach, ja? Ist er erkältet?«
Und so weiter, bis zum Weltende. Wenn Hannelore ihr Eis aufgeschleckt hatte, steckte sie sich das Ende vom Zopf in den Mund. So einer stieg mein Bruder nach.
Andererseits, was fand sie an ihm? Eine Schönheit war er nicht, mit dem Nasenfahrrad. Er stellte seine Schulmappe zwischen die Füße, so daß er sich nicht bewegen konnte. Wenn Hannelore von ihm abrückte, mußte er sich bücken und nach der Tasche angeln.
»Stell die Tasche aufs Fensterbrett«, sagte ich.
Er schüttelte den Kopf: »Nachher isse weg.«
Von der Eiko, wie wir die Eis-Anneliese abgekürzt nannten, trabten wir nach Hause, wir waren wie üblich spät dran. Die Überwachung durch Tante Deli war gelockert. Die warmeKüche lief auf vollen Touren, für die Gäste, es gab kein Familienessen um den runden Tisch mehr. Jeder aß, wie er Zeit hatte, an einem der Tische in der Gaststube.
Tante Deli rief aus der Küche, als sei ich ein Gast: »Was willste essen?«
Anneli, obwohl alle ein kleines Mädchen in ihr sahen, das einen Stoffhund – oder neuerdings eine Puppe mit Schlafaugen – in ihrem Kinderwagen vor sich herschob, bildete für uns einen Mittelpunkt. So, als ob sie jene Rolle übernähme, in der ich sie in einem lichten Augenblick gesehen hatte.
Unauffällig arrangierte Anneli: »Ich hab’ heute sechs Stunden. Ihr wartet doch auf mich mit dem Essen, du und Achim?« Sie sagte gern Achim zu meinem Bruder.
Wir warteten. Anneli kam, warf ihren Ranzen auf einen Stuhl, strahlte: »Fein. Was gibt’s heute?«
Tante Deli stand in der Küchentür und brabbelte die Speisekarte herunter. Manchmal war die Liste üppig, wenn unsere Verbindungen zum Land, zu den Dörfern und den Bauern, funktionierten.
Wir nannten sie »die Männer mit den Mützen«. Auf ihren Kastenwagen stapelten sich Heu und Stroh, darunter verborgen lagen die Ergebnisse geheimer Geschäftsverbindungen, die Vater mit den Mützenmännern pflegte. Kohlrabi, Kartoffeln, Gurken, Kohlrüben, Lauch, Teltower Rübchen, Grünkohl, Rotkohl, ein halbes Schwein, vier Meter Mettwurst. Der jeweilige Mann mit der Mütze saß dann bei uns am Stammtisch, eingehüllt vom Rauch jener Fehlfarbenzigarren, die Benjamins Vater produzierte, und bedeckte Zettelchen mit Zahlenreihen. Oben am Rand dieser Zettel stand aufgedruckt »Schultheiß Patzenhofer«. Sie schrieben mit Kopierstift, den sie anleckten, die Zahlen erschienen tiefblau. Wenn Bier darüberschwappte, verlief das Blau zu Wolkengebilden und Gebirgskämmen.
Sie trugen flache Tellermützen mit langem oder kurzem Schirm, in grauer oder bräunlicher Farbe, je nach Alter in verschiedenen Stadien der Verblichenheit, mit mehr oder weniger deutlichen Schweißrändern. Manche setzten für ihre Fahrten»nach Berlin« blaue Mützen mit blanken Zelluloidschirmen auf, legten auch einen Kragen aus demselben Material an. Wortkarg rechneten die Mützenmänner, tranken ihr Bier in kleinen Schlucken, als dächten sie jeden Augenblick daran, daß es üblicherweise Geld kostete. Bei Walter Pommrehnke gab es Bier gratis für jeden Lieferanten, zum Abschluß einen Schnaps.
Vater schluckte Schnäpse mit Kunden und Lieferanten, das gehörte zu seinem neuen Beruf als Gastronom. Niemals wurde er betrunken. Allenfalls schimmerte das Blau seiner Augen in tieferem, vollerem Ton. Zum Kopierstift paßte das. Tante Deli sah, wenn Abrechnung stattfand, über die Schultern der Männer. Dann stellte sie Kompensationsware bereit: Doppelkornflaschen in unauffälligen Kartons. Die Mützenmänner verstauten die Flaschen unter den Heu- und Strohballen, schwangen sich aufs Sitzbrett, auf dem als Polsterung ein Hafersack lag, und riefen: »Hüh!«
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