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Das Schützenhaus

Das Schützenhaus

Titel: Das Schützenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lentz
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durchs seichte Wasser schleppte und hin und wieder ohne ersichtlichen Grund einfach untertauchte.
    Eines Sommertages verlor mein Vater die Geduld. »Gibt’snicht«, sagte er in seiner kurz angebundenen Art, »ein Lümmel, der nicht schwimmen lernt. Ich halte dich fest, und wir schwimmen los.« Ich klammerte mich an ihn, schluckte Havelwasser und Tränen hinunter. Wie weit schwamm er mit mir? Fünfzig Meter? Hundert? Mir schien, als müßten wir gleich das andere Wannseeufer erreichen. Wassertretend hielt er mich hoch und rief: »Fünf Mark, wenn du zurückschwimmst.«
    Einen Heiermann! Damals, vor der Inflation, war das viel Geld. Ich sehe Vaters Gesicht vor mir. Er blickte mich mit seinen blauen Augen an, aber in den Augenwinkeln sah ich eine Bewegung. Kein Blinzeln, irgendwas kurz davor. Ich sah, daß er die Angelegenheit mit Humor betrachtete, mich weder auf der Stelle ersäufen noch über mich spotten würde, wenn ich es nicht schaffte. Ich stieß mich von ihm ab, machte Schwimmbewegungen, schluckte Wasser und wirklich, ich bewegte mich auf den Strand zu. Fünf Mark! Ich schwamm und schwamm. Wie lange? Eine Stunde? Einen Nachmittag? Endlich spürte ich Boden unter den Füßen, richtete mich auf und rannte hinter Vater her, um mir den Heiermann abzuholen, den blanken. Tante Deli, in schwarzem Badekostüm mit Rüschen, unter einem Sonnenschirm hingelagert, sagte: »Na, also.«
    Natürlich konnte Anneli schwimmen, seit sie auf der Welt war, wenigstens so ungefähr. Und Joachim, davon war ich überzeugt, hatte es nie lernen müssen. Er hatte lediglich darauf zu achten, daß er seine Brille abnahm.
    Auch jetzt, in Lindow, lag sie auf dem Steg, neben Onkel Rudolphs Zigarettenetui. Ich war glücklich. Ich hatte mitmachen können bei diesem spontanen Badefest, mußte nicht verloren auf dem Steg rumstehen und den anderen zusehen, wie bei unserem letzten Besuch vor zwei oder drei Sommern.
    Joachim ähnelte dem Großvater äußerlich, wegen der Brille. Laura aber ähnelte unserer Großmutter in ihrem Wesen. Beide waren fürs Leben auf dem Land geboren, in der Stadt konnte man sie sich nicht vorstellen. Nicht einmal in der relativen Ländlichkeit unseres Vorortes. Felder und Wälder schlossen sich an den verwilderten Park und die Festwiese des Schützenhausesan, aber es war nicht dasselbe. Die Nähe der Riesenstadt, inzwischen Groß-Berlin, wie jeder immer wieder stolz betonte, als sei es sein höchstpersönliches Verdienst, daß die Gemeinden zusammengeschlossen worden waren – die Nähe dieses Molochs blieb spürbar. Vom Bahnhof marschierten Rudel von Ausflüglern zum Schützenhaus, wenn es das Wetter erlaubte. Sie sahen alles andere als ländlich aus mit ihren Strohhüten und den ein bißchen zu eleganten Anzügen, die Mädchen in Kleider gehüllt, die man als »Sonntagskleider« bezeichnen konnte. Jeder wollte etwas darstellen.
    Obwohl wir uns das nicht klarmachten, wollten auch wir etwas darstellen, jeder auf seine Art. Vater einen Wirt, der Freundschaft hielt mit seinen Regimentskameraden. Tante Deli spielte ernsthaft die Wirtin, die »den Laden schmiß«, und Sternchen spielte den Radrennfahrer und Tausendsassa, der alles organisieren kann. Joachim spielte den Kintopp-Besitzer. Nur Anneli stellte sich selbst dar, heute scheint mir, sie war die einzige Ehrliche von uns.
    Und ich? Wenn ich es recht überlege, ich spielte den Weisen, den »über meine Jahre hinaus Gereiften«. Mir hätte eine Laufbahn als Guru offengestanden, aber davon wußte ich damals noch nichts. Warum müssen Gurus immer aus Indien kommen? Warum nicht aus Berlin?
    Statt dessen wurde ich Joachims Schlappenschammes, wie Sternchen es ausdrückte, der vieles sah und manchmal kluge Sätze vom Stapel ließ. Aber auch das fiel mir erst später auf – und wieder ein. Wenn Sternchen sagte: »Du bist Joachims Schlappenschammes«, verstand ich es nicht. Schon weil ich nicht wußte, was ein Schlappenschammes ist.
    Laura war anders. Mit ihren weit auseinanderstehenden hellblauen Augen blickte sie energisch um sich, sie entschied, was gespielt wurde. Auf einer Wiese hielt Opa Schafe, vier insgesamt. Eins davon war zahm, Laura nannte es Klöterlämmchen. Seine Mutter, Klöterliese, mochte uns nicht, aber Klöterlämmchen lief hinter uns her, ließ sich geduldig von Zeppelin in die Fersen zwicken und verzehrte mit augenscheinlichem VergnügenSalate, die Laura und Anneli ihm aus grünen Birnen, heimlich ausgegrabenen Frühkartoffeln und Löwenzahn

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