Das schwarze Blut
Mark versteckte sich hinter einer Säule und wappnete sich mit Geduld, in der Gewissheit, dass die Wachsamkeit der beiden Posten irgendwann nachlassen würde.
Er setzte sich nieder, lehnte sich mit dem Rücken an die Säule und studierte beflissen seinen Reiseführer. In Wahrheit ließ er seine Gedanken schweifen. Er hatte keine Lust mehr, sich über Reverdis Rätsel den Kopf zu zerbrechen – zu viele Fragen und zu wenige Antworten. Er wusste nicht einmal mehr, warum er die Prinzessin Vanasi zu treffen versuchte. Vielleicht bloß zum Vergnügen?
Er dachte an ihr erstes Zusammentreffen zurück, das sich ihm unvergesslich eingeprägt hatte.
Prinzessin Vanasi war von ihrer Großtante, der Königin Sisowath Kossomak, erzogen worden, die für die »Himmelstanztruppe« verantwortlich war. Da sie in der Nähe des Chanchaya-Pavillon aufwuchs, in dem die Tänzerinnen trainierten, fing sie an, sich für den Tanz zu begeistern und stellte bald ihre außergewöhnliche Begabung unter Beweis: Mit sechzehn war sie bereits die Primaballerina des Ensembles. Mehr als eine Künstlerin, war sie eine göttliche Gestalt, die Vermittlerin zwischen der Königsfamilie und den Göttern. Damals trug sie nach der Hauptgottheit in der Kosmogonie der Khmer den Beinamen Apsara.
Doch der erste Staatsstreich im Jahr 1970 zwang sie ins Exil, zuerst nach China, dann nach Nordkorea. Unterdessen ergriffen die Roten Khmer die Macht und rotteten die Hälfte der Bevölkerung aus. Jahre später kehrte Vanasi in ihre Heimat zurück, erst in die Flüchtlingslager an der thailändischen Grenze, wo sie ihr Volk im Tanz unterrichtete, und in den achtziger Jahren endlich nach Phnom Penh, zusammen mit ihrer Familie. Zu der Zeit hatte sie Reverdi kennen gelernt.
Der Name riss Mark wieder aus seinen Erinnerungen. Mechanisch blickte er zu der Flügeltür hinüber: Die zwei Wachposten waren verschwunden. Er sprang auf, packte seine Tasche und drang in die verbotenen Gärten ein.
In diesem Blütenparadies vielfarbiger Sträucher war vom Stimmengewirr der Touristen nichts mehr zu hören, nur das leise Geplätscher der Rasensprenger drang an Marks Ohr. Fünfzig Meter vor sich sah er sein Ziel: den ChanchayaPavillon.
Er ging auf das ausladende steinerne Vordach zu, über dem goldene Turmspitzen aufragten. Als er die Stufen hinaufstieg, empfand er denselben Schock wie beim ersten Mal. Der Wind und Sonne geöffnete Platz war vollkommen leer: Über einem kahlen Marmorboden, auf den schräg die Schatten der dünnen Säulen fielen, wölbte sich ein mit den Göttern und Dämonen des Khmertanzes bemalter Plafond. Es war still; nur das ferne Rauschen des Verkehrs auf dem Boulevard Charles-de-Gaulle drang herauf.
In den Duftschwaden der Räucherstäbchen ging Mark auf einen am gegenüberliegenden Ende des Pavillons thronenden mächtigen Buddha zu. Das farbige Licht war gesättigt von scharfem Sandelholzaroma, in das sich der metallische Geruch von Kupfer mischte. Er trat näher und sah den Kopfschmuck der Tänzerinnen, kupferne Hauben, die sie auf Ständern zu Füßen der Statue abgelegt hatten – der dunkelgoldenen Obhut des Buddha anvertraut.
Etwas raschelte hinter ihm, und er drehte sich um.
Da stand sie. Die Arme auf die Brüstung gelegt, blickte sie auf den Verkehr hinab.
Ihre schmale, feingliedrige Gestalt war in bodenlanges blaues Tuch gehüllt, und Mark erinnerte sich, dass Blau eine königliche Farbe ist. Die Prinzessin war die einzige Person, die innerhalb des Palasts diese Farbe tragen durfte. Auffällig war die Textur des Gewebes – eine feste, mit Goldfäden durchwirkte Seide, die in jeder Falte in eigenartigem, wie gedämpftem Glanz schimmerte.
Mark räusperte sich. Sie wandte den Kopf und schien nicht im Geringsten überrascht zu sein.
»Hoheit«, sagte er auf Französisch mit einer lächerlichen Verbeugung, »ich habe mir erlaubt … Also, ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern … Ich bin Journalist. Ich heiße …«
»Ich erinnere mich an Sie.«
Sie drehte sich um und lehnte sich, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, ans Geländer.
»Sie hatten uns einen langen Artikel im Figaro Magazine versprochen. Wir fanden uns dann in Voici wieder samt der fein säuberlichen Liste der täglichen Ausgaben unserer Familie: ›Schlossherren in Kambodscha‹.«
Sie sprach ein makelloses Französisch, ohne den geringsten Akzent. Mark verbeugte sich abermals:
»Bitte nehmen Sie es mir nicht übel. Ich …«
»Sehe ich so aus, als nähme ich es Ihnen übel? Warum
Weitere Kostenlose Bücher