Das schwarze Blut
entdeckte. Das war es, das war die »Kammer der Reinheit« – er wusste es mit absoluter Gewissheit. Das war die Hütte, in der Jacques Reverdi gelebt – und ohne Zweifel eines seiner blutigen Opfer dargebracht hatte.
KAPITEL 56
Auf einer winzigen Lichtung stand ein Kubus, errichtet aus Brettern und Palmwedeln. Beim leisesten Windhauch strichen die Bambusblätter über die Wände hin und legten sich auf das Dach. Mark lauschte: Drinnen rührte sich nichts. Vorsichtig umrundete er die Hütte: Tür und Fenster waren fest verschlossen.
Er brach die Tür auf.
Seine erste Empfindung war ein Geruch nach Schimmel. Zugleich nahm er die sehr reine Atmosphäre des Raums wahr: Auf unerklärliche Weise war die Hütte vor den Regenzeiten verschont geblieben.
Er trat ein und sah sich um. Kahle Wände, ein Bretterfußboden, ein Tisch und ein Stuhl in der Ecke rechts gegenüber der Tür. Links eine verstaubte Matte aus Raphiabast. Keinerlei Blutspuren, nirgends. Nicht das geringste Anzeichen von Gewalt. Im Dämmerlicht des Raums erkannte Mark an einer Wand diverses Taucherzubehör – Bleigürtel, Druckluftflasche, Atemregler, Stirnlampe, einen Neoprenanzug … Er stand tatsächlich in der Behausung des Tauchlehrers Jacques Reverdi.
Aber weshalb »Kammer der Reinheit«?
Er ging ein paar Schritte tiefer in den Raum hinein. Etwas stimmte nicht in dieser Hütte. Irgendetwas passte nicht zu ihrer Lage und Beschaffenheit. Er zog die Tür zu, und mit einem Schlag war es stockfinster. Das konnte nicht sein: Immer dringt das Sonnenlicht durch die unzähligen Ritzen und Spalten einer Strohhütte … Mark öffnete die Tür wieder, prüfte aufmerksam die Wände und stellte fest, dass sämtliche Zwischenräume sorgfältig mit pflanzlichem Material, Bast und Rattan, verstopft worden waren. Ein Geflecht aus Palmblättern, die mit Rattanfasern festgezurrt waren, füllte auch die Fuge zwischen Dach und Wänden aus, wo normalerweise ein Spalt klafft – eine natürliche Belüftung. Unglaublich: Die Ritzen zwischen den Dielenbrettern waren mit Silikon verschlossen. Schließlich sah er sich die Tür an und fand das System bestätigt: Auch sie war mit pflanzlichen Fasern abgedichtet, sodass nicht der schmalste Lichtstrahl hindurchfiel, wenn sie geschlossen war.
Die Kammer der Reinheit.
Reverdi hatte seine Zelle sorgfältig präpariert, um nicht das kleinste Stäubchen, nicht den geringsten Fremdkörper einzulassen.
Ein Satz aus Reverdis letzter Nachricht fiel ihm wieder ein:
»Ein Ritual braucht auch einen besonderen Ort, einen heiligen Raum, in dem jede Geste ihren höheren Sinn erhält, jede Bewegung zum Symbol wird.«
Er dachte an Reverdis Krisen, wenn er die Atmung einstellte und sich damit gegen die Welt abriegelte. Dies hier war dasselbe Phänomen auf einer anderen Ebene: Die abgedichtete, abgedunkelte Hütte wurde zu dem Raum, in dem sein Ich sich entfaltete – und sein Wahnsinn. Die Erweiterung seiner Person.
»… der Tatort stellt sozusagen die Expansion seiner selbst dar. Er nimmt den Raum ganz in Beschlag und provoziert einen Blutandrang, um sich besser zu schützen …«, hatte Frau Dr. Norman gesagt.
Auch diese Diagnose der Psychiaterin erwies sich als richtig. Mark fröstelte trotz der Hitze. Er versetzte sich in den Körper des Tauchers während des Atemstillstands. Er stellte sich vor, wie das Blut zu den lebenswichtigen Organen strömte, stellte sich sattrote, pulsierende Organe vor, glimmende Glut in der Feuerstelle … Nichts anderes hatte sich in dieser Kammer abgespielt: Das Blut konzentrierte sich in der Mitte, in dem Viereck der Reinheit.
Mark rang nach Luft. Er merkte auf einmal, dass er unwillkürlich den Atem angehalten hatte.
Er ging zur Tür.
Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um.
Vor sich sah er, erschreckend deutlich, das Verbrechen geschehen.
Jacques Reverdi saß im Lotossitz auf dem Boden, die Augen geschlossen, umgeben von brennenden Kerzen, Räucherstäbchen, Gefäßen mit Honig. Stille und vollkommene Reinheit schienen den Raum zu beherrschen. Kein Staubkorn, kein Lufthauch drangen hier ein. Nur der Bambus raschelte draußen – wie das Raunen von Betenden in einer Kirche.
Reverdi öffnete die Augen und betrachtete die Frau, die sich gegen ihren Fesseln wehrte. Dort hinten im Schatten, wo sie war, ähnelte sie einer Chrysalide, die sich unter Schmerzen wand, um einen Schmetterling aus Blut freizugeben. Er stand auf … Mark presste sich an den Türstock. Er wollte fliehen und konnte es nicht. Er spürte
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