Das schwarze Blut
der Kammer ankündigt.
Das Ritual lebt, meine Liebste. Es ist niemals toter Buchstabe. Finde die Bewegung inmitten der Vegetation, und du wirst die Kammer entdecken …Die Anspielung auf diese »Wegmarken«, die ihn beinahe um seine Ermittlung gebracht hätten, gefiel Mark ganz und gar nicht. Er fürchtete ein neues Rätsel – pflanzlicher oder tierischer Natur –, an dem er wieder scheitern konnte. Was meinte Reverdi damit? Eine Insektenwolke? Einen Vogelschwarm? Einen Fluss?
Mark ahnte, dass der Mörder sein Ritual als Bestandteil des Urwalds ansah, als eine der zahlreichen Komponenten der Natur – als etwas Lebendiges, Organisches, das zum Biorhythmus des Dschungels gehörte. Vielleicht betrachtete er es sogar als Voraussetzung für das Gleichgewicht der heimischen Fauna und Flora? Mark musste an Herbert Mullin denken, einen Serienmörder aus den USA, der sich eingebildet hatte, mit seinen Morden Erdbeben verhindern und aus den Eingeweiden seiner Opfer das Ausmaß der Luftverschmutzung herauslesen zu können.
Nach zweistündiger Überfahrt erreichten sie Koh Surin. Eine smaragdgrüne Insel inmitten von ungestümem Blau. Aus der Ferne erweckte alles den Anschein paradiesischer Unberührtheit, als hätte kein menschlicher Fuß dieses Land je betreten.
Erst als sie von Bord gingen, zeigte sich das Ausmaß der Katastrophe: Im Schutz der Bäume am Strand kampierten Hunderte von Touristen in eng aneinander gereihten Zelten. Zahllos und ungehemmt wuselten sie durcheinander wie Kakerlaken und verwüsteten die Schönheit, derentwegen sie doch gekommen waren.
Mark hatte sich informiert: Koh Surin war ein Nationalpark, in dem jegliche Art der Bebauung untersagt war. Die thailändischen Grundbesitzer umgingen die gesetzlichen Vorschriften, indem sie aus der Insel einen gigantischen Campingplatz machten. Ein paar Holzbaracken boten einen minimalen Service. An einer Barackenwand stand, von Hand gepinselt: DIVING, SCUBBA, SNURCKLING. Bestimmt hatte sich Reverdi hier als Tauchlehrer betätigt …Mark holte sich von einer Theke eine Landkarte der Insel und überließ seine Reisegefährten ihrem Programm – sie probierten bereits Tauchermasken und Schwimmflossen für ihre » diving tour «.
Koh Surin war ein winziges, wie eine Erdnuss geformtes Eiland, nicht mehr als zwei Kilometer lang. Bis zum Spätnachmittag konnte er ohne weiteres die Insel umrunden und rechtzeitig zur Abfahrt wieder bei seiner Gruppe sein. Er ging an den riesigen Wurzeln der Mangrovenbäume vorbei den Strand entlang Richtung Osten und betrat dort, wo das Gelände anstieg, das Dickicht der Palmen. Er fand einen Pfad, auf dem er im Schatten der Vegetation auf halber Höhe des Hangs dem Küstenverlauf folgen konnte.
Es war elf Uhr vormittags. Im Wechselspiel von Licht und Schatten raunten sich zwischen den Sonnenflecken Blätter und Lianen Geheimnisse von Wasser und Pflanzensaft zu. Hin und wieder sah Mark durch eine Lücke im Wald unter sich das Meer aufblitzen. In jeder kleinen Bucht veränderte sich das Blau des Wassers, tönte sich türkis oder jadegrün, minzkühle Tiefen wechselten mit lavendelblauen Tümpeln, durchscheinend wie eine Lasur.
Manchmal überraschte Mark eine Gruppe von Einheimischen, die auf originelle Weise badeten: Vollständig angekleidet und angetan mit Schwimmwesten, trugen sie tapfer Tauchermaske und Schnorchel, obwohl ihnen das Wasser nur bis zum Knie reichte.
Obwohl die ganze Insel unter einem bestürzenden Tourismus ächzte, empfand Mark das Gefühl absoluter Einsamkeit. In dem Moment war er sich einer vollkommenen Übereinstimmung mit Jacques Reverdi bewusst, mit dessen antizyklischer Daseinsweise – dem einzelgängerischen und weitabgewandten Leben an allzu überlaufenen und immer von der Zivilisation bedrohten Orten.
Mark nahm auf einmal eine Veränderung seiner Umgebung wahr. Die Geräusche ringsum erschienen ihm leichter, feiner, höher, so als würden ihm Aufmerksamkeit und Wohlwollen entgegengebracht. Der Dschungel neigte sich ihm zu, umschlang ihn, liebkoste ihn … Er brauchte mehrere Sekunden, bis er erkannte, was das war: Bambus. Er befand sich in einem ausgedehnten Bambusdickicht, das träge im Wind wogte. Aus einer Ahnung heraus drang Mark tiefer zwischen die raschelnden Blätterwände ein – und fand linker Hand einen Pfad, einen Abstieg bis an den Rand eines Felsblocks, der über das Meer hinausragte.
Er war keine zwanzig Schritte gegangen, als er, halb verborgen im Laubwerk, ein schwarzes Dach
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