Das schwarze Blut
das Wasser lauwarm. Im Spiegel über dem Waschbecken starrte er sich an: braun gebrannt, abgemagert, struppig, wie ein Reisender, der sich zu lang in der Sonne aufgehalten und alle Orientierung verloren hat. Wer war er heute? Wieder konnte er nur zu seiner gewohnten Formel Zuflucht nehmen: fünfzig Prozent Elisabeth, fünfzig Prozent Reverdi; hundert Prozent Betrüger.
Wie die Halluzination in der Hütte hatte auch sein Traum eine neue Qualität gehabt, voller realer körperlicher Empfindungen. Er stellte sich die Verbrechen nicht mehr vor, er erlebte sie. Was passierte mit ihm? Er hatte keine Erklärung, doch er nutzte es aus, dass ihm der Traum noch so nahe, so aufwühlend und körperlich präsent war, um an seinem Roman weiterzuarbeiten. Um die krankhaften Empfindungen des Mörders detailgetreu festzuhalten.
Es war ein automatisches Schreiben.
Seine Hände flogen über die Tastatur; der Text entstand ohne Umweg über Bewusstsein oder Verstand. Es war ein anderer Mensch, der hier von seiner Mordgier schrieb, von seiner Lust beim Anblick von Blut, seiner Freude am Leiden anderer. Mark ließ es zu; in einem Winkel seines Kopfes distanzierte er sich von diesem körperlosen Wesen, das sich an seiner Stelle äußerte. War das nicht dichterische Freiheit? War es nicht die Aufgabe des Schriftstellers, seinem Protagonisten, während er entstand, sein Gehirn zu leihen?
Plötzlich erstarrte er vor Schreck: Er merkte, dass er eine Erektion hatte – mitten in der Schilderung einer Mordszene. Panisch warf er einen Blick aus dem Fenster: Draußen tagte es.
Er zog sich hastig an, steckte den Schlüssel ein und stürzte mit wehendem Hemd hinaus, das er sich erst auf der Treppe zuknöpfte. Er musste den Abszess aufstechen, musste sich abreagieren und wieder Frieden finden, so oder so.
KAPITEL 59
Die jungen Mädchen waren spurlos verschwunden, auf den Straßen war nirgends mehr der geringste Zauber zu entdecken, nur ein paar Huren waren auf dem Heimweg. Keine alten Frauen, das nicht: alterslose, abgetakelte, grell geschminkte Straßendirnen, die müde und verbraucht waren. Wenn die letzten Nachtschwärmer an ihnen vorübergingen, entblößten sie ihre dicken Schenkel oder riefen ihnen mit schriller Stimme eine Aufforderung zu. Bei Tageslicht war es ein fahles, armseliges, niederschmetterndes Schauspiel.
Mark steuerte die Bars an, die er am Abend zuvor entdeckt hatte. Doch sie hatten schon zu. Oder waren leer. Er ging weiter. Straßenkehrer spritzten die Fahrbahn ab. Paare wankten dahin und fanden ihr Hotel nicht mehr. Die ersten Bettler tauchten auf. Frauen mit Babys auf dem Rücken machten sich auf den Weg zum Markt, gleichgültig gegen die Stuckfassaden, die erloschenen Neonschilder. Der Tag offenbarte die ganze Hässlichkeit und Falschheit dieser Kulissen. Die Farbe blätterte ab, und in den Mauern saß der Schwamm.
Mark, dessen Sinn ausschließlich auf seine Befriedigung gerichtet war, sah in diesem Verfall nur ein Hindernis, das seiner Lust im Weg stand. Die Gestalten, auf die er traf, konnten noch so abstoßend sein – klapperdürre Gestelle oder regelrechte Ballone, die in der höher steigenden Sonne zu zerplatzen drohten –, sie verschwanden vollständig hinter den betörenden Bildern in seinem Kopf: Statt der bedrückenden Realität sah er dunkle Furchen zwischen prallen Brüsten, junge Schamhügel, runde, üppig geschwungene, weiche Hinterbacken … Er beschleunigte sein Tempo. Wo waren sie denn alle, die schönen Mädchen vom Abend? Vielleicht musste er in die Innenhöfe eindringen, in die Hinterzimmer, in die Treppenhäuser …Zu seiner Rechten hörte er sonores Gelächter. In einer Bar plauderten Thai-Polizisten in blitzenden Uniformen und mit gezückter Waffe an der Theke. Ein Stück weiter, wo die Häuser zurückwichen, sah er andere Polizisten einen Mann mit Kolbenhieben zusammenschlagen. Ja, die Kulissen wurden beiseite geschafft, und dahinter kam das zynische Getriebe zum Vorschein. Jene, die das Geschäft des schönen Scheins zum Laufen brachten und dafür sorgten, dass die Masse der Sextouristen sich allabendlich hier berauschen und sämtliche Gelüste befriedigen konnte. Mark rannte jetzt beinahe. Er war krank, er brauchte seine Medizin …Gegenüber einer Kreuzung entdeckte er noch ein paar abnorme Gestalten mit spitzen Brüsten und Bartschatten am Kinn. Transvestiten. Ohne zu überlegen, ging er auf sie zu. Doch fast im selben Moment stoppte ihn ein unerwarteter Anblick.
Das Meer.
Hinter der
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