Das schwarze Blut
den anderen Arm aus. In schrägen Strahlen fiel das Sonnenlicht ins Atelier. Wie spät mochte es sein? Er griff nach dem Hörer.
»Hallo?«
»Verghens.«
Nur durch mehrere Nebelschichten erreichte die Stimme die Hörrinde im Hirn. Mark erinnerte sich wieder, dass sein Chefredakteur ebenfalls auf der Präsentation gewesen war.
»Was gibt’s?«, fragte er heiser.
»Hab ich dich etwa geweckt?« Triefend vor Ironie. »War ja reizend, dein kleines Fest. Aber komm wieder runter. Es gibt Arbeit für dich.«Für einen Moment hob sich der Nebel in Marks Hirn. In schneidendem Ton sagte er: »Ich schreibe keine Artikel mehr.« »Ich weiß, dass du verkatert bist, Alter, aber das hier ist höhereGewalt. Ich brauch einen Nachruf.«
»Auf wen?«
Verghens seufzte und ließ die Sekunden verstreichen. Markkannte diese Art von unzähligen Redaktionskonferenzen – es war geradezu zwanghaft, wie sich Verghens alle Informationen aus der Nase ziehen ließ, um eine Sache so spannend wie möglich zu machen.
Endlich rückte er mit der Sprache heraus: »Reverdi ist gestern gestorben. Um sechzehn Uhr malaiischer Zeit. Wir haben es heute Nacht erfahren.«Mark rutschte vom Bett auf den Boden, spürte das harte Parkett unter sich. Reverdi konnte keinesfalls schon hingerichtet sein – der Prozess hatte ja noch gar nicht begonnen.
»Wieso?«»Verkehrsunfall. Das Auto, das ihn zur Rekonstruktion des Hergangs an den Tatort bringen sollte, hat ein Brückengeländer durchbrochen und ist in den Fluss gestürzt.«Mark stockte das Blut in den Adern. Jetzt war er hellwach und bei klarem Verstand. Dass bei dem Unfall Wasser eine Rolle gespielt hatte, konnte nur eines bedeuten: Jacques Reverdi lebte.
»Haben sie die Leiche gefunden?«, fragte er.
»Noch nicht. Nur die Leichen der Wärter. Momentan baggern sie den Fluss aus. Aber die Strömung ist anscheinend sehr stark, und … Was ist? Spinnst du?«Mark begriff mit leichter Verspätung, dass er lachte. Sein Gelächter explodierte förmlich in seiner Kehle; er wollte sich ausschütten vor Lachen, derart komisch erschien ihm das alles: seine Geschichte, sein Betrug, seine Lügen – und jetzt der Ruhm, der ihm in dem Moment wieder geraubt wurde, da er zum Greifen nah war …Denn er war verdammt, daran bestand nicht mehr der leiseste Zweifel.
Jacques Reverdi war geflohen, mit dem Fluss als Komplizen.
Und er war auf dem Weg zu ihm.
KAPITEL 75
Sein erster Impuls war, sich in seinem Atelier zu verkriechen. Um auf den Mörder zu warten.
Den ganzen Tag verbrachte er damit, die neuesten OnlineNachrichten zu verfolgen – auf den Seiten der malaiischen Zeitungen New Straits Times und Star, aber auch der verschiedenen Presseagenturen, Reuters, Associated Press, AFP …Daraus ließ sich folgender Hergang rekonstruieren. Am Morgen des 14. Oktober sollte Jacques von Kanara nach Johor Baharu überstellt werden, da der Untersuchungsrichter für den folgenden Tag die Rekonstruktion des Mordes am Tatort angesetzt hatte.
Der Gefängniswagen war um sechs Uhr morgens aufgebrochen und auf dem North South Expressway die Küste des Südchinesischen Meers entlang nach Süden gefahren. Gegen neun Uhr, nach zweihundert Kilometern, war das Fahrzeug in der Nähe von Tangkak auf der großen Brücke über den Fluss Muar aus noch ungeklärter Ursache aus der Spur geraten, durch das Geländer gebrochen und zwanzig Meter tief ins Wasser gestürzt.
Der Fahrer und sein Beifahrer waren von der Wucht des Aufpralls sicher auf der Stelle tot gewesen. Nach den ersten Augenzeugenberichten war der Wagen binnen Sekunden untergegangen und von der Strömung mitgerissen worden. Die Leiche des Wärters, der hinten gesessen und Reverdi mit Handschellen an sich gefesselt hatte, war fünf Stunden später knapp sechs Kilometer flussabwärts tot aus dem Fluss gezogen worden. Wo war der Franzose? Wie kam es, dass die andere Hälfte der Handschelle leer war? Noch sprach niemand von Flucht. Die Suche nach ihm und dem zweiten vermissten Wärter ging weiter. Nach Ansicht der Experten bestand wenig Hoffnung, sie zu finden – die Strömung war hier sehr stark, und der Fluss verzweigte sich in zahlreiche Arme, die in die Mangrove mündeten, und dort gab es Krokodile.
So weit die offizielle Version. Aber Mark konnte sich sehr gut vorstellen, was wirklich geschehen war. Diesen Unfall auf der Brücke hatte Reverdi verursacht – irgendwie. Kaum war der Wagen im Fluss gelandet, hatte sich das Kräfteverhältnis umgekehrt. Der gefesselte Gefangene hatte die
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