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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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mehr noch: Wundersamerweise durfte er sich frei bewegen – das heißt, er durfte zehn Stunden am Tag in diesem glutheißen Innenhof braten.
    Er begann an seinen Schutzengel zu glauben. Erst recht nachdem er seine Zelle gesehen hatte, das reinste Apartment: fünf mal fünf Meter im Quadrat. Kahle Wände, gedeckt weiß gestrichen, ein Zementfußboden mit einer aufgerollten Matte. Genau so, wie er es schätzte: karg und klar. Auf der einen Seite des Raums gab es sogar ein grau gekacheltes Mäuerchen, das einen Waschraum mit Dusche und Klo abteilte. Keine ekelhaften Schmierereien, kein klaffendes Abortloch im Beton mit einem Deckel aus Pappe darauf, keine schwärzlichen Spuren auf dem Boden, die vom Aufenthalt früherer Häftlinge zeugten. Der Raum war wie neu.
    Und vor allem war Reverdi allein. Keine Menschentrauben, keine stinkenden Gefährten, kein Gewichse in nächster Nähe, wie er es im T-5 erlebt hatte. Kein einziger Zellengenosse, der diesen Palast mit ihm teilte. Die Einzelhaft war keine Sicherheitsmaßnahme, sie war ein Privileg, so viel stand fest.
    Als der Wärter ihm ein Stück Seife und ein Handtuch brachte, hatte Reverdi ihn gefragt, wem er diesen Luxus verdanke, aber der Wärter hatte nur die Achseln gezuckt.
    »Das ist das europäische Menü.« jemand hatte ihn angesprochen, auf Französisch. Reverdi wandte den Kopf: Neben ihm war aus dem Nichts ein Mithäftling aufgetaucht, ein kleiner Mann, dem das T-Shirt um den mageren Leib schlotterte.
    »Den Käse meine ich«, setzte der Mann hinzu. »Kleine Zugabe für Westler.«
Er kauerte sich nach asiatischer Art auf den Fußsohlen nieder. Jacques öffnete den Mund, um ihm ein »Verpiss dich« hinzuwerfen, das keinen Widerspruch zuließ, doch er besann sich. Die anderen im Hof beobachteten ihn. Tamilische Gesichter wie verkohlte Rinde, safranfarben die der Malaien, chinesische in Kupfertönen. Seit Jahren bewegte er sich zwischen diesen Volksgruppen. Bei der Vorstellung, mit ihnen reden, sich wieder mit ihren Sprachen, ihren Ticks, ihren Vorurteilen abgeben zu müssen, überkam ihn grenzenlose Müdigkeit. Da war ein Franzose immerhin eine Abwechslung.
Er lächelte, ohne zu antworten. Der Mann war wirklich winzig. Reverdi musste an einen kleinen grauen Affen denken, einen von der Sorte, die in größeren Gruppen zusammenlebt, um sich im Dschungel besser verteidigen zu können. Sein Gesicht war fürchterlich: braun gegerbt wie Leder, aufgeplatzt, geborsten, eingedrückt. Als wäre es mit einem Rasiermesser oder mit amerikanischen Faustschlägen traktiert worden. Die konkave Struktur ließ ihn an Chet Baker denken, den Cool-JazzSänger und -Trompeter, der in seiner Jugend von verführerischer Schönheit gewesen war, dessen Gesicht aber im Lauf der Zeit immer mehr schrumpfte und sich zerfurchte, bis es schließlich einwärts gedrückt, ja regelrecht eingebuchtet war, mit tief eingesunkenen Augenhöhlen. Dieser hier hatte an Missbildungen noch mehr zu bieten: Seine Oberlippe war von einer Hasenscharte gespalten, die ein Ungleichgewicht in das Ganze brachte – es sah aus, als wäre seine linke Gesichtshälfte gelähmt.
»Éric heiße ich«, sagte er und streckte die Hand aus.
Reverdi ergriff sie:
»Jacques.«
»Weiß ich. Bist ja längst der Star hier.«
»Sind noch andere Franzosen da?«
»Mit dir sind wir zwei. Außerdem hat es zwei Engländer, einen Deutschen, ein paar Italiener. Das ist alles an Europäern.
Alle wegen Drogenhandel eingebuchtet. Die meisten haben lebenslänglich gekriegt. Mich hat man zum Tod verurteilt. Wegen dreißig Gramm H. Aber meine Strafe ist in zwanzig Jahre Haft umgewandelt worden. Wenn wir brav sind, dürfen wir alle nach fünfzehn Jahren raus. Keiner beschwert sich. Ist alles besser als der Strick.«
Éric verstummte; wahrscheinlich tat es ihm leid, dass er in Jacques’ Gegenwart vom Galgen gesprochen hatte. Er ließ sich mit dem Hintern auf den Boden plumpsen und begann seine Fußnägel zu säubern.
»Wir haben Glück, dass wir Franzosen sind. Die Botschaft schickt uns jeden Monat einen Doktor, der uns anschaut, ob wir auch gesund sind. Deswegen können sie uns nicht fertig machen. Stattdessen halten sie sich an den Indonesiern schadlos oder an denen, die keine Botschaft in Malaysia haben.« Er grinste, auf seine Nägel konzentriert. »Die kriegen die volle Portion ab.«
Reverdi war aufgestanden und beobachtete eine Gruppe von Wärtern, die in ihren dunkelgrünen Uniformen mit dem Schlagstock in der Hand dastanden: zwielichtigere

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