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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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zusammenbasteln, das sie den Wärtern abkaufen. Zweitwohnsitze, wenn du so willst …«
»Und das da?«
Jacques deutete nach rechts auf drei gedrungene Gebäude, in deren Mauern die Feuchtigkeit saß.
»Das erste ist der guian. Der ›Mangel‹. Dort hinein steckt man diejenigen, die sich ihre Dröhnung nicht mehr leisten können. Wenn sie zu viel randalieren, schickt sie Raman in den zweiten Block: den verschärften Arrest.«
»Und das dritte?«
»Das dritte, das ist … das ist der …«
Éric zögerte, aber Jacques hatte schon begriffen.
»Der Trakt der Verdammten«, sagte er schließlich. »Dort drin steht der Galgen. Anscheinend …«
Wieder verstummte er und untersuchte angelegentlich den Schorf an seinen Fußsohlen. Reverdi schluckte. Der Todestrakt. Er hatte sich geschworen, nicht daran zu denken, und wusste, dass es ihm unter Aufbietung aller Willenskraft auch gelingen würde. Seine neue Herausforderung: bis zur letzten Sekunde ohne einen Gedanken an den Tod zu leben.
Er hob das Gesicht der Sonne entgegen und fühlte das heiße Licht auf der Haut. Er lächelte. Spüren. Leben. Er öffnete die Augen und fragte:
»Und die Chancen für einen Ausbruch?«
»Null. Aus Kanara flieht man nicht.«
Reverdi dachte an den Satz, mit dem die Neuankömmlinge in Auschwitz empfangen worden waren: Hier gibt es nur einen einzigen Ausweg – Abgang durch den Kamin. Für ihn, Reverdi, würde es der Strick sein.
Éric setzte noch eins drauf:
»Die Mauern sind sieben Meter hoch. Vor zwei Jahren haben es drei Typen geschafft, unbemerkt über das Dach der Kantine hinaufzuklettern. Der eine hat sich am Stacheldraht den Bauch aufgerissen. Der zweite ist auf der anderen Seite hinuntergefallen und hat sich beim Sturz beide Knie in den Brustkasten gerammt. Den dritten haben sie im Sumpf wiedergefunden, wo er im Morast ersoffen war. Sie haben Spürhunde hier, die sogar unter Wasser Gerüche wittern können. Sie lassen sie aus den USA kommen. Irgendwelche Mutanten sind das, Züchtungen speziell für den Knast. Aber sie sind nie schnell genug: Sie finden immer nur Leichen.«
In diesem Moment bemerkte Reverdi eine sonderbare Szene: Im toten Winkel eines Gebäudes, etwa hundert Meter links von ihm, schlich ein Mann mit rasiertem Schädel die Mauer entlang – ein kurzer Schatten auf dem Beton –, bis er auf einen anderen Häftling traf: einen Knaben mit langen schwarzen, von Kokosöl glänzenden Haaren, dem T-Shirt und Shorts so eng am Körper anlagen, dass sich sogar die Form der Eier abzeichnete. Das androgyne Wesen nahm den Mann bei der Hand, und sie verschwanden unter einer grauen Plane.
»Thais«, kommentierte Éric. »Die hatte ich vergessen. Hundert Ringgit für eine Nummer. Sie machen ein Riesenvermögen damit. Ich kann dir auch Tussen auftreiben, wenn du willst. Ein Wärter schleust sie freitags herein, während des Gebets. Wenn du willst, kannst du …«
»Nein. Keine Frauen.«
Erst jetzt schien Éric zu bemerken, dass Reverdis Oberkörper vollständig rasiert war.
»Aha«, raunte er grinsend, »du stehst wohl eher auf Thais …«
»Es ist wegen des Tauchens.«
»Was?«
»Dass ich rasiert bin: wegen des Tauchens. Da liegt der Tauchanzug besser an.«
Éric wirkte beruhigt:
»Wenn du rauchen oder fixen willst, weiß ich was …« »Auch keine Drogen.«
»Ein Handy vielleicht?«
»Nein.«
Éric schwieg ratlos. Reverdi warf ihm einen Knochen zum Abnagen hin:
»Falls ich irgendwas brauche, werde ich mich an dich wenden.«
Éric schenkte ihm sein schönstes Lächeln: eine Klaviatur schwarzer und weißer Tasten. Mit der erfreuten Miene des Vertreters, der ein Geschäft abgeschlossen hat, stand er auf.
Im selben Moment rief eine andere Stimme Reverdi an:
» Jumpa! «
Ein Wärter stand vor ihm. Jacques stand verwundert auf. Jumpa: Er hätte nicht gedacht, dieses Wort so bald zu hören.
Es bedeutete einfach: »Besuch«.
KAPITEL 9
    Kaum hatte er den Besuchsraum betreten, wusste er, dass er vor seinem Schutzengel stand.
    Es war ein Chinese um die dreißig, in einen teuren Anzug gezwängt, klein und sehr fett. Er reagierte auf den Angriff der Tropen mit glänzendem Schweiß, der ihn wie eine dünne Lackschicht überzog. In der rechten Hand hielt er einen rotledernen Aktenkoffer, im angewinkelten linken Arm eine Stange Zigaretten, etliche Tafeln Schokolade, Zeitschriften. Kein Zweifel: sein Schutzengel.
    Der Wärter schob Reverdi vor sich her. Aus gegebenem Anlass hatte man ihn an Händen und Füßen mit Stahlketten gefesselt, und er hatte den

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