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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Eindruck, eine Rolle zu spielen – den blutrünstigen Mörder –, die ihn nicht überzeugte. Die Ketten, die Pump-Gun des Wärters, der martialische Takt der Schritte: Dieses ganze Arrangement schien ihm unecht – Folklore, nichts weiter. Hätte Reverdi das Spiel plötzlich nicht mehr mitgemacht und beispielsweise mit seiner Stahlfessel den Wärter erwürgt, wäre der Mann tot gewesen, noch ehe er sein Gewehr durchgeladen hatte.
    Der Besuchsraum war ein langer schmaler Saal mit Ventilatoren an der Decke. Darin standen mehrere Tische mit je einem Stuhl auf beiden Seiten. Durch die Oberlichter schien die Sonne herein, und ihre dünnen Strahlen brachen sich an Ecken und Kanten wie Laserlicht.
    Der Chinese legte seine Last ab und trat schwungvoll auf ihn zu.
»Ich heiße Wong-Fat«, sagte er auf Englisch und wusste nicht recht, ob er dem gefesselten Reverdi die Hand geben konnte. »Ich bin Ihr Anwalt. Nennen Sie mich Jimmy. Darauf lege ich Wert. Das ist mein englischer Vorname.«
»Ich habe niemanden verlangt.«
Mit ausgebreiteten Armen, als verkündete er eine Wahrheit, die sich von selbst verstand, sagte der Anwalt: »Pflichtverteidiger.«
Reverdi überkam eine tiefe Niedergeschlagenheit. Wenn er an die Komödie dachte, die ihm bevorstand – Verhöre, Gegenüberstellungen, Rekonstruktion des Tathergangs, dann die Farce der Verhandlung mit malaiischen Richtern unter ihren weißen Perücken –, bedauerte er beinahe, dass er dem Lynchmord in Papan entgangen war.
Wong-Fat deutete auf den Tisch. Der Wärter drückte Reverdi auf einen Stuhl nieder und befestigte die Ketten von Handgelenken und Knöcheln an einem im Boden eingelassenen Ring. Währenddessen nahm der Chinese ihm gegenüber Platz und schob Aktenkoffer, Schokolade und Zigarettenstange beiseite.
Reverdi musterte seinen Anwalt: ein Vatersöhnchen, sagte er sich, voll gestopft mit amerikanischen Pfannkuchen und gebratenen Nudeln. Die drallen Händchen waren manikürt, und unter der Weste umspannte ihn ein Ralph-Lauren-Hemd wie eine Wursthaut. Er verströmte ein elegantes, viriles Parfum, von dem er vermutlich eine halbe Flasche über sich ausgegossen hatte. Mit seinem gelblichen Teint erinnerte er an eine duftende Wachsfigur, und Jacques musste lächeln: Sein Anwalt war eine dicke Weihnachtskerze.
Der Wärter zog sich zur Tür zurück, das Gewehr in der Hand. Wong-Fat wartete, bis er weit genug fort war, dann schob er Reverdi seine Mitbringsel hin:
»Geschenke.«
Reverdi sagte nichts. Er senkte nicht einmal den Blick. Mit unverändert lächelnder Miene sagte der Chinese:
»Ich hoffe, Ihre Zelle sagt Ihnen zu. Diese Idioten wollten Sie in den Hochsicherheitstrakt stecken.«
Reverdi reagierte nicht. Wong-Fat klatschte lebhaft in die Hände, wie um den Beginn der Sitzung zu verkünden. Behutsam zog er den Aktenkoffer zu sich her und strich über den abgegriffenen Lederdeckel. Schließlich ließ er mit beiden Daumen die vergoldeten Schlösser aufschnappen.
Aus der Art, wie dieses kleine Ritual vonstatten ging, schloss Jacques, dass der Chinese ungemein an seinem Aktenkoffer hing – einem Gegenstand, der ihn sicher seine ganze Ausbildung hindurch begleitet hatte. Privatschulen in Kuala Lumpur. Studium in England, Rückkehr nach »KL«, wo der Papa ihm eine reiche, internationale Klientel verschafft hatte. Wie kam er dazu, sich in diesem Fall als Pflichtverteidiger zu melden?
»Ich will ganz offen sein«, verkündete Wong-Fat in einem Sprühnebel winziger Speicheltröpfchen. »Ihre Sache sieht nicht gut aus. Gar nicht gut. Ich habe hier das Protokoll der Polizisten von Mersing, die bezeugen, sie hätten Sie am Tatort überrascht. Ich habe auch eine Kopie des Autopsieberichts – der von den besten Pathologen Malaysias verfasst wurde. Sie haben siebenundzwanzig Messerstiche an der Leiche gezählt …«
Jacques schwieg noch immer. Auf seinem Stuhl hatte er sich keinen Millimeter von der Stelle gerührt.
»Sie beschreiben hier sämtliche Wunden in allen Einzelheiten und sprechen explizit von ›perverser Grausamkeit‹ und ›krankhaftem Fanatismus‹ …«
Der Anwalt verstummte und wartete auf eine Reaktion seines Gegenübers. Sie blieb aus. Er kramte in seinem Aktenkoffer und förderte ein weiteres Bündel Unterlagen zutage:
»Ferner liegen mir die Untersuchungsergebnisse vom Government Chemistry Department in Petaling Jaya vor. Sie sind äußerst belastend. Die Fingerabdrücke auf dem Messer stammen von Ihnen, das Blut an Ihren Fußsohlen und Ihrer Haut vom Opfer

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