Das schwarze Blut
bei uns in Frankreich »psychologische Unterstützung der kriminalistischen Ermittlung« genannt, die darin besteht, aufgrund der Analyse der Gegebenheiten am Tatort sowie anderer den Ermittlern vorliegender Indizien das psychologische Profil eines Mörders zu erstellen.
Im Rahmen meiner Recherchen und insbesondere bei meinen Begegnungen mit Strafgefangenen bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass der Gegenstand meiner Arbeit eigentlich ein Vorwand ist, um mich mit dem Thema zu beschäftigen, das mich wirklich interessiert: dem kriminellen Trieb. In den letzten Monaten habe ich deshalb beschlossen, das Thema zu wechseln, den Schwerpunkt auf die Häftlinge selbst zu legen und ihr psychologisches Profil unabhängig von allen strafrechtlichen oder moralischen Erwägungen zu erstellen. Mit der Konzentration auf die Gemeinsamkeiten in der jeweiligen Biografie, Persönlichkeit und Vorgehensweise hoffte ich sogar, eine Art »Metaprofil« zu gewinnen. So weit war ich mit den Vorarbeiten, als ich am 10. Februar in der Presse die ersten Berichte über Ihre Festnahme und die außergewöhnlichen Umstände Ihrer Verhaftung entdeckte, und ich entschied mich, meine Arbeit ausschließlich auf Sie zu konzentrieren.
Natürlich geht das nicht ohne Ihre Zustimmung, das heißt Ihre Hilfe. Ich kann diese Arbeit, wie sie mir vorschwebt, nur beginnen, wenn ich sicher sein kann, dass Sie einverstanden sind, auf meine Fragen zu antworten …Jacques unterbrach die Lektüre. Nicht genug damit, dass ihn diese Studentin eiskalt mit einem beliebigen Serienmörder gleichsetzte, tat sie dies auch noch in einem Brief, der allen Blicken preisgegeben war, bevor der Prozess überhaupt begonnen hatte. Das galt zwar für die meisten Verfasserinnen der Briefe, die vor ihm auf dem Boden lagen, doch diese hier legte eine Unbedarftheit, eine Idiotie an den Tag, die wirklich alles übertraf. Das ging so über mehrere Seiten:
Da ich nicht viel Geld habe, kann ich leider nicht persönlich zu Ihnen kommen, jedenfalls nicht in der nächsten Zeit. Aber ich habe mir schon einen Fragebogen ausgedacht, anhand dessen wir einen ersten Kontakt herstellen könnten und den ich Ihnen gern so bald wie möglich zuschicken würde.
Es wurde immer besser: Sie wollte direkt eine Beichte von ihm! Warum nicht gleich ein volles Geständnis? Gebannt von so viel Dummheit las er weiter:
Lassen Sie mich meinen Schritt erklären: Dank meiner psychologischen Sachkenntnis glaube ich erfassen zu können, was anderen entgangen, was sie vielleicht nicht einmal gestreift haben.
Im Übrigen werden Sie feststellen, dass ich Sie mit meinen Fragen und den Kommentaren, die ich Ihnen gleich darauf schicken werde, unterstützen kann, sich besser kennen und durchschauen zu lernen. Zwar bin ich noch keine diplomierte Psychologin, doch kann ich Ihnen helfen, gewisse Wahrheiten leichter zu ertragen …In heißen Wellen schäumte die Wut in ihm auf: Er knüllte das Papier zusammen. Eingesperrt in seiner Zelle, war er den Blicken und der Neugier aller Welt ausgesetzt. Ein Gefangener im Zoo, preisgegeben den voyeuristischen Gelüsten und krankhaften Fantasien jedes X-Beliebigen. Er schloss die Augen und suchte in sich eine Oase der Ruhe, um Körper und Geist zu beschwichtigen.
Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, strich er die Seite glatt – er wollte diese Dummheit bis ins Letzte auskosten.
Überraschung: Der letzte Teil war weitaus interessanter. Darin nahm er einen unerwartet aufrichtigen Ton wahr, der in auffälligem Kontrast zu ihrer anmaßenden Einleitung stand. Hier versuchte sich die Studentin mit einem Vergleich zwischen dem Freitauchen und den Morden:
Vielleicht gehe ich zu schnell zu weit, aber mir fällt eine – wie soll ich sagen? – Übereinstimmung auf zwischen der Tiefe des Meeres und den düsteren Triebkräften, die auf Sie einwirken. In beiden Fällen herrschen Dunkelheit, Druck, Lebensfeindlichkeit. In gewisser Weise ist da aber auch eine Schranke der Reinheit, die Schwelle zu einem Unbekannten. Wie soll ich es Ihnen erklären? Zwischen diesen Taten und den Tauchgängen spüre ich denselben Drang, Fremdes zu erforschen, Grenzen zu überschreiten. Und vor allem denselben Taumel, dieselbe unwiderstehliche Verlockung. Ich möchte diesen Taumel zu fassen bekommen, ihn gemeinsam mit Ihnen empfinden, um mich in Ihre Sicht einfühlen zu können. Ich will nicht richten, sondern teilhaben. Falls Sie sich, zu meinem Glück, entschließen sollten, mich anzuleiten, mich bei der Hand zu
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