Das schwarze Blut
Aufnahmen. Irgendwo plätscherte eine leise Hintergrundmusik, halb Ethno, halb Elektro.
»Wollen Sie was trinken?«
Sie drehte sich zu der Stimme um und sah vor dem offenen Kühlschrank einen untersetzten Mann als dunkle Silhouette vor dem kalten Licht stehen: breite Schultern, kurze Arme. Ein Ringer im Kleinformat, mit englischem Jackett und weißen Manschetten.
»Eine Cola hätte ich gern.«
»Light?«
»Nein.«
Der Mann beugte sich zum Kühlschrank hinunter und kam dann auf sie zu, in der einen Hand eine Coladose, in der anderen eine Flasche Bier.
»Ich dachte, Zucker ist der schlimmste Feind aller Models?«
»Ich bin ja noch keins. Das muss ich ausnützen.«
Mit einem unsicheren kleinen Lachen nahm sie die Dose entgegen. Sie hasste diesen scherzhaften Ton, diese unechte Lässigkeit, die in Paris an der Tagesordnung war. Der Unbekannte lächelte, sicher ihr zu Gefallen, und beugte sich dann über die Fotos, ihre ersten, noch ungeschminkten Versuche.
Während er sich die Bilder ansah, betrachtete sie ihn ausgiebig. Sie hatte selten eine so originelle Erscheinung gesehen. Er war rötlich blond und trug – Gipfel der Abscheulichkeit – einen Schnurrbart. Seine sehr dünnen Haare fielen ihm lang und glatt wie zu Fäden erstarrtes Karamell in die Stirn, und sein Outfit – kariertes Jackett und englischer Kragen – rückte seine ohnehin sehr britische Erscheinung in Richtung Sherlock Holmes.
Er trank sein Bier in kleinen Schlucken, wobei er sich ständig mit einer knappen Handbewegung seine Haare aus der Stirn warf. Es war etwas Gezwungenes und Brutales an ihm. Daneben spürte sie mit ihren Antennen einer Mutter Teresa eine Verletzlichkeit, eine geheime Wunde. Außerdem witterte sie den Geruch einer Sucht. Dieser Typ war abhängig – nicht von Heroin, nicht von Koks – es war etwas anderes … »Über Ihr Aussehen muss ich nichts sagen«, kommentierte er schließlich, als er sich wieder aufrichtete. »Darüber haben Sie sicher längst alles gehört.«
»Alles. Genau.«
Sie zerbrach sich den Kopf nach einer witzigen, coolen, pariserischen Bemerkung, aber es fiel ihr nichts ein. Vincents Stimme rettete sie aus der Verlegenheit:
»Habt ihr euch schon miteinander bekannt gemacht?«
Mit schwerem Schritt kam er näher, kramte in seinen Hosentaschen, dann nahm er dem anderen die Bierflasche aus der Hand.
»Khadidscha Kacem«, sagte er und deutete mit dem Flaschenhals auf sie. »Künftige Sternschnuppe in unserer eitlen kleinen Welt. Übrigens weiß sie es noch nicht, aber das alles« – er deutete auf das Studio – »ist gratis für sie. Ja, meine Königin: Wenn du willst, werden wir Partner. Du zahlst nichts für die Aufnahmen, und wir einigen uns bei den Verträgen, die du abschließt.«
Khadidscha war sprachlos – wurde sie über den Tisch gezogen, oder fiel ihr da ein Geschenk des Himmels in den Schoß? Sie wusste nicht einmal, ob das aus vertraglicher Sicht überhaupt möglich war, denn sie war ja schon ihrer Agentur verpflichtet. Vorläufig sagte sie nur, leicht perplex:
»Oh! Na ja … dann … vielen Dank, aber …«
»Mark Dupeyrat«, fiel ihr Vincent ins Wort und legte dem Rothaarigen freundschaftlich den Arm um die Schultern.
»Mein bester Freund. Und Journalist mit Leib und Seele. Wir haben allerhand ausgefressen, wir beide, vor Urzeiten.«
Der Mann verbeugte sich tief.
»Für welche Zeitung schreiben Sie?«, fragte sie.
Vincent kam seiner Antwort zuvor:
»Le Limier. « Er zwinkerte seinem Freund zu. »Ein Revolverblatt.«
»Kenne ich leider nicht«, gestand Khadidscha.
Der Journalist strich wieder seine Haarsträhne zurück. »Da haben Sie nichts verpasst«, sagte er.
Männer, die sich absichtlich klein machten, konnte Khadidscha nicht ausstehen. Darin lag fast immer ein Zeichen übermäßiger Eitelkeit. Als hätten sie in einer anderen Welt, einem anderen Leben, sehr viel mehr wert sein können. Oder als fühlten sie sich allem anderen so haushoch überlegen, dass sie es sich leisten konnten, auf das eigene Leben hinabzublicken.
»Er macht Jagd auf Verbrechen«, berichtete Vincent weiter.
»Und liebt blutige Leichen. Monsieur Dupeyrat könnte eine der größten Redaktionen in Paris leiten, aber nein – er zieht es vor, sein Leben in Gerichtssälen und an Tatorten zu verbringen …«
Khadidscha hörte schon nicht mehr zu. Sie merkte, wie ihr alles ringsum, ihre ganze Umgebung, mit außergewöhnlicher Schärfe ins Bewusstsein drang, wie es unter ihrer Haut vibrierte und prickelte. Die Reinheit der kahlen
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