Das schwarze Blut
Sie sich vorstellen könnten, das Ganze auf die metaphorische Ebene zu heben, jeder dieser unterschiedlichen Herkunftsarten einen symbolischen Wert beizumessen, was würden Sie sagen?«
»Hören Sie …«
»Bitte, nur ein paar Worte.«
Die Ärztin zögerte, dann ließ sie sich wieder in ihren Sessel zurücksinken. Sie schloss die Augen. Ein kurzes Lächeln vertiefte die Falten um ihre Augen.
»Das Blut der verlorenen Jungfräulichkeit, würde ich sagen, ist dicht. Bedeutungsbeladen. Es ist Leben und Tod zugleich. Das Ende der Unschuld, der Freiheit. Auch das Kind hat eine Sexualität, aber bei ihm ist sie noch kein Gefängnis. Seine Begierden sind unkomplizierte, flüchtige Erscheinungen, die den Körper nur streifen. Mit der Pubertät und dann mit der Defloration tauchen Irrlichter auf, färben sich rot, werden eine organische Kraft, die dem jungen Mädchen nicht mehr von der Seite weichen …«
Sie richtete den Blick auf ihn.
»Ich sage es noch einmal: Dieses Blut stammt von einer Verletzung. Einer Wunde, die sich nie wieder schließt. Es ist der Ruf des Verlangens schlechthin, und der verstummt nicht mehr. Unstillbar.«
»Wenn Sie auf der Palette eines Malers seine Farbe beschreiben müssten, was würden Sie sagen?«
»Ein bräunliches Rot. Zwischen Schlamm und Erdbeere. Es hat etwas von angeschwemmtem Lehm, aber auch von frisch aufgebrochenem Fruchtfleisch. ›Türkischrot‹ wäre die korrekte Bezeichnung der Farbe.«
Mark schrieb fieberhaft und dankbar: Das Orakel hatte seine Stimme gefunden.
»Ich weiß nicht, ob Sie das Bild kennen – es gibt ein berühmtes Gemälde von Bonnard, das oft als Beispiel für Türkischrot herangezogen wird: Frau mit Katze. Der Hintergrund hat diesen Farbton. Verdickt, wie geronnen, und zugleich voll von neuem Leben, süß und satt.«
Mark hätte sich nichts Besseres wünschen können: Die Gynäkologin wurde zur Dichterin.
Er nutzte die Gunst der Stunde: »Und das Menstruationsblut? Welche Farbe würden Sie dem zuordnen?«
»Ockerrot. Auch hier spielt die Vorstellung von Schlamm und Erde herein. Eine braune Erde, Abraum. Die Menstruation ist ein versäumtes Stelldichein. In der Blutung schwingt immer eine kleine Enttäuschung mit, Trauer über eine Verschwendung. Sie ist Nahrung, die ihren Zweck verfehlt hat.« Sie verstummte nachdenklich, dann wiederholte sie in festerem Ton:
»Ja, ein rotes Ocker. Eine braune Trauer. Eine üppige, nährstoffreiche Erde, die in ein Grab geworfen wird.«
»Hätten Sie auch dafür ein Bild als Beispiel?«
»Nein. Eher eine Landschaft. Diese griesgrämigen Dörfer in Belgien oder in den Niederlanden, nichts als Backstein, tief in die Erde geduckt und zusammengedrückt vom Regen.«
Marks Stift flog über den Block – das gab Material für Elisabeth, damit konnte sie Seiten füllen!
»Nur ein Wort noch zu den Verletzungen«, schob er dazwischen, »dann lasse ich Sie bestimmt in Ruhe. Wissen Sie, die Heldin in meinem Buch hat einen Autounfall, und ich würde gern das ›gewöhnliche‹ Blut diesem anderen, weiblicheren, von dem wir gesprochen haben, gegenüberstellen.«
Sie zog eine Grimasse, die ihr Gesicht zu einer Totenmaske erstarren ließ, und Mark dachte eine Sekunde lang an die unter der Asche erstickten Bewohner von Pompei.
»Während meiner fachärztlichen Ausbildung habe ich ziemlich viele Unfallopfer zu Gesicht bekommen, und ich erinnere mich an meine Überraschung beim Anblick des vielen Bluts. Was mich so verblüfft hat, war die Lebhaftigkeit, der Glanz, der … Schwung. Es war wie gestohlenes Leben, das bei seinem geschäftigen Treiben ertappt wird. Ein Karmesinrot.«
»Und ein Gemälde?«
»Ja, ein sehr lebhaftes, leuchtendes, in dem die Farbe wie eine Fanfare ist. Die Große Parade von Fernand Léger. Kennen Sie das?«
»Nein.«
»Versuchen Sie irgendwo eine Reproduktion aufzutreiben, dann verstehen Sie es. Der Bildhintergrund ist ein einziges schwingendes Rot. Die Zirkusfiguren im Vordergrund sind alle weiß.« Sie lächelte bei der Vorstellung. »Rote und weiße Blutkörperchen: Ja, in dieser Fanfare ist das wahre Wesen des Blutes.«
Dabei legte sie wieder die Hände auf den Schreibtisch und sagte in abschließendem Ton: »Na, da haben wir ja nicht schlecht gearbeitet, was?«
Nicht schlecht, allerdings.
In einem einzigen Gespräch hatte er sämtliche Antworten zusammengetragen, die er brauchte. Jetzt hatte er nur noch ein letztes Problem zu lösen: Elisabeths Foto.
Seit dem Vortag hatte er ständig darüber nachgedacht. Das echte
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