Das schwarze Blut
Akzent:
»Jacques, was sagen Sie? Erklären Sie es mir!«
Statt zu antworten, schloss Jacques Reverdi die Augen. Über dem inneren Theater ging der Vorhang nieder.
»Jacques?«
Keine Antwort. Stattdessen dehnte sich sein Gesicht, fiel zusehends ein, erbleichte. Die Augenhöhlen wurden schwarze Löcher, die Lippen schmal wie Drähte.
Die Psychiaterin warf ihren Block hin und sprang auf. Sie legte zwei Finger an Reverdis Kehle und schrie etwas auf Malaiisch. Sofort traten die beiden Pfleger in Aktion – der eine eilte mit einer Beatmungsmaske herbei, der andere mit einer Spritze. Mark begriff nichts.
Nun packte die Frau im tudung Jacques’ Kopf mit beiden Händen und schrie ihn auf Französisch an:
»Atmen Sie, Jacques! ATMEN SIE!«
Im selben Moment geriet ein Pfleger vor die Kamera und stieß sie im Eifer des Gefechts an – sie fiel zu Boden, und alles verschwamm.
Dann war der Bildschirm leer.
Mark, der die Klimaanlage ausgeschaltet hatte, um kein Wort zu verpassen, war schweißgebadet. Er hielt das Gerät an und ließ das Band zurücklaufen. Er war wie vom Donner gerührt: Diese Aufnahme war ein Einblick in den Wahnsinn des Mörders.
Vor allem die letzten Sekunden waren verstörend. Wie Reverdi die Luft angehalten hatte. Er flüchtete sich in die Apnoe: Er schottete sich ab, indem er den Atem anhielt, umgab sich mit einem Panzer, der ihn gegen die Außenwelt abschirmte.
Es ging sogar noch weiter. Nicht zu atmen schützte ihn nicht nur vor der Außenwelt, sondern auch vor sich selbst. Vor seinen inneren Stimmen. Übermannt von einer Erinnerung – oder einer Halluzination –, hörte er einfach zu atmen auf. »Versteck dich, schnell, Papa kommt!« Was bedeutete das?
Mark setzte sich aufs Bett und dachte nach. In Reverdis Leben war der Vater der große Abwesende. Vater unbekannt: In keinem biografischen Bericht tauchte eine Vaterfigur auf. Und doch hatte der Mörder diesen unverständlichen Satz gesprochen – noch dazu mit Kinderstimme: »Versteck dich, schnell, Papa kommt!« Als wäre mit einem Schlag eine sehr klare, aufwühlende Erinnerung zurückgekehrt … Mark sah auf die Uhr: acht. Also ein Uhr morgens in Paris. In seinem Palmtop suchte er die private Telefonnummer des Archivars beim Limier. Jérôme. Der schlief nie.
»Weißt du, wie spät es ist?«, knurrte Jérôme.
»Ich bin weit weg«, rechtfertigte sich Mark.
»Wo?«
»Malaysia.«
Jérôme lachte. »Reverdi?«
»Wenn du Verghens was sagst, bring ich dich um …«
»Ich schweige wie ein Grab.«
Das war die Wahrheit. Jérôme, der sich von früh bis spät in sein Archiv vergrub, sprach nur unter Zwang.
»Ich hab mich gefragt«, begann Mark in seinem herzlichsten Tonfall, »ob du wohl was für mich nachprüfen könntest?«
»Was denn?«
»Könntest du im Dossier Reverdi nachschauen – ist sein Vater tatsächlich unbekannt?«
»Ja. Bekannt ist nur die Identität der Mutter. Monique Reverdi.«
Nicht das geringste Zögern. Jérômes Gedächtnis konnte es mit jedem Computer aufnehmen.
»Könntest du nicht das zentrale Standesamt der Region kontaktieren, um zu erfahren, wer der Vater war?«
»Nie und nimmer geben die uns eine Auskunft!«
»Nicht mal bei deinen Kontakten?«
»Ich kann’s versuchen. Aber die Chancen stehen schlecht.«
»Könnte man auch herausfinden, ob sich Reverdi eventuell selber an sie gewandt hat, um den Namen seines Vaters zu erfahren?«
Jérôme lachte wieder. »Das liegt schon eher in meinem Ressort.«
»Schick mir ein Mail, wenn du die Info hast.«
Mark bedankte sich und legte auf. In dem Moment meldete sich die Übelkeit wieder. Zwischen der verpassten Nacht und der aktuellen Nacht in Frankreich hatte sein Körper die zeitliche Orientierung verloren, und sein Organismus arbeitete auf Sparflamme. Der Hunger machte es nicht besser: Er hätte etwas essen oder aber sich ins Bett fallen lassen müssen, doch es klang ihm wieder diese entsetzliche kleine Kinderstimme in den Ohren. Er sah das versteinerte Gesicht vor sich, die hervortretenden Adern am Hals. Er brauchte einen Kaffee.
Einen Zimmerservice gab es in diesem Hotel nicht. Mark ging ins Erdgeschoss hinunter, wo ein Heißwasserspender aufgestellt war. Die Nescafé-Tüten waren aus. Er musste sich mit Tee begnügen – einem armseligen, geschmacklosen Lipton, den er sehr lang ziehen ließ. Während er den Teebeutel in der Tasse hin und her schwenkte, versuchte er seine Gedanken zu ordnen.
Seine Reise versprach ein Erfolg zu werden. Noch keine vierundzwanzig Stunden in Malaysia, und
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