schon häufte sich Entdeckung auf Entdeckung. Die Technik des Aderlasses. Reverdis neues Profil als »methodischer Mörder«. Die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, dass Linda Kreutz dieselbe Marter hatte erdulden müssen. Der hohe Blutzuckerspiegel, der den Verdacht auf einen eventuellen Vampirismus lenkte … Und nun diese Kinderstimme, die auf ein Trauma im Zusammenhang mit dem Vater hindeutete. Wieder sah Mark das eingefallene, starre Gesicht vor sich, nachdem Reverdi zu atmen aufgehört hatte. Das Geheimnis des Mörders, das sich hinter dieser Maske verbarg.
Dabei fiel ihm Elisabeth wieder ein. Beinahe hätte er vergessen, Reverdi zu schreiben. Er warf den Teebeutel in den Abfalleimer und ging in sein Zimmer zurück. Dort stellte er die Klimaanlage auf höchste Stufe und machte sich an die Arbeit, während er die zwei Kuchenstücke aufaß, die er von dem Tablett neben dem Heißwasserspender hatte mitgehen lassen.
Er brauchte nur wenige Minuten, um Elisabeths Worte, ihre Formulierungen, ihre »Musik« zu finden. Nach der Nacht, die hinter ihm lag, nach den vielen Stunden, die er als investigativer Journalist unterwegs gewesen war, grenzte das an ein Wunder. Das Merkwürdigste war, dass er einen recht heiteren Ton anschlug: Trotz des makabren Gegenstands, trotz der Brutalität war die Studentin stolz auf ihre Entdeckungen.
Elisabeth berichtete von »ihrer« Begegnung mit dem Gerichtsmediziner. Beschrieb die gewaschene Leiche. Den Verlauf der Adern: den Weg des Lebens. Allerdings erlegte sich Mark eine Zensur auf und verschwieg seine übrigen Erkenntnisse – den Blutzucker, die Methode des Atemanhaltens, den Vater.
Das System funktionierte immer auf zweierlei Ebenen: Elisabeth suchte einen Weg, und Mark ging ihn.
Er schickte die Mail ab und empfand ein Gefühl von Macht. Im Moment war er derjenige, der die Lage beherrschte. Doch das Unbehagen über sein fragwürdiges Vorgehen ließ sich nicht verdrängen: dass er in die Haut einer Frau schlüpfte, um sich mit einem Mann zu identifizieren. Dass er sich in Elisabeth verwandelte, um Reverdi zu werden: geradezu schizophren.
Mit diesem Gedanken schlief er, vollständig angekleidet, auf dem Bett ein.
KAPITEL 37
Als er aufwachte, wusste er nicht mehr, wo er war. Das fensterlose Zimmer bot keinerlei Anhaltspunkt, obwohl das Licht noch brannte. Als ihm der Lärm der Klimaanlage ins Bewusstsein drang, glaubte er sich neben einem dröhnenden Flugzeugmotor.
Es war sechzehn Uhr, sah er. Er setzte sich auf und stützte die Stirn in beide Hände. Wie ein eiserner Ring schnürte das Kopfweh seinen Schädel ein. Seine Zunge fühlte sich riesig an. »Kaffee«, murmelte er. Doch bei der Vorstellung, dass er wieder ins Erdgeschoss hinunter und sich heißes Wasser holen musste, meldete sich erneut die Übelkeit.
Er hob den Kopf, und sein Blick fiel auf den Computer auf dem kleinen Tisch. Auf gut Glück öffnete er das Mailprogramm und ging ins Netz.
Von:
[email protected] Gesendet: 23. Mai 2003 11:02 An:
[email protected] Betreff: KUALA 2Meine Lise, du bestärkst und ermutigst mich.
Von allen, die mit mir Kontakt aufnehmen, mir schreiben, mich ausfragen wollten, habe ich dich gewählt. Heute beglückwünsche ich mich zu dieser Entscheidung. Du erweist dich deiner Mission als würdig.
Du hast den Weg des Lebens gefunden. Du weißt, wonach ER sucht und was ER gern betrachtet. Du hast also begriffen, dass wir, ER und ich, eine heilige Grenze überschritten haben. Die Grenze des Blutes.
Wir bewegen uns auf einem wenig besuchten Gebiet, Lise. Einem gefährlichen Terrain, auf dem wir uns auf eine Stufe mit Gott stellen. Von der Bibelstelle, in der Gott das Blut als die Seele bezeichnet, habe ich dir schon berichtet. Im selben Kapitel, Vers 6, heißt es: ›Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.‹ Allein der Herr hat das Recht, Blut fließen zu lassen. Wer gegen dieses Gesetz verstößt, macht sich zum Rivalen Gottes.
Der, dessen Spuren du folgst, hat diese Schwelle überschritten. Er hat Gott herausgefordert – und nimmt die Verantwortung für seine Tat auf sich. Wenn du ihn verstehen willst, musst du weitersuchen. Das Ritual umfasst noch weitere Regeln. Es sind präzise definierte Etappen. Du musst haargenau begreifen, wie ER vorgeht. Wie ER die Entblößung der Seele vorbereitet … Du musst die ›Wegmarken der Ewigkeit‹ finden. ›Die schwirren und schwärmen …‹ Schwing dich auf in die Lüfte, meine Lise. Suche am Himmel. Und