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Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus

Titel: Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stephen;Straub King
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Gordon war hier, und er hat erzählt …«
    »Ja, schon gut.« Andy lässt sich auf den Stuhl vor dem
Schreibtisch fallen und starrt Morty mit feuchten, erschrockenen Augen an. »Rufen Sie die Polizei an. Sofort! Sagen Sie denen, dass der Fisherman ein Mann namens George Potter ist und dass er im zweiten Stock hier im Hotel Nelson wohnt.« Andys Gesicht erstarrt zu einer Grimasse, dann entspannt er sich wieder. »Auf demselben Flur wie meine Wenigkeit.«
    » Potter? Unsinn, Andy. Der Kerl ist nur ein Bauunternehmer im Ruhestand. Könnte keiner Fliege was zuleide tun.«
    »Wie’s mit Fliegen steht, weiß ich nicht, aber ein paar kleinen Kindern hat er verdammt viel angetan. Ich habe die Polaroidfotos gesehen, die er von ihnen gemacht hat. Sie liegen in seinem Kleiderschrank. Sie sind das Schrecklichste, was man sich vorstellen kann.«
    Dann tut Andy etwas, was Morty verblüfft und ihn davon überzeugt, dass dies kein Scherz und vermutlich auch nicht bloß ein Irrtum ist: Andy Railsback fängt bitterlich zu weinen an.
     
    Tansy Freneau, alias Irma Freneaus trauernde Mutter, trauert eigentlich nicht richtig. Sie weiß, dass sie’s tun sollte, aber ihre Trauer ist aufgeschoben worden. Im Augenblick kommt sie sich vor, als würde sie auf einer warmen, freundlichen Wattewolke schweben. Die Ärztin (Pat Skardas Praxiskollegin Norma Whitestone) hat ihr vor vier, fünf Stunden eine Dosis Tavor gegeben, aber das war erst der Anfang. Die Wohnwagensiedlung Holiday Trailer Park, in der Tansy und Irma leben, seit Cubby Freneau 1998 nach Green Bay abgehauen ist, liegt günstig zur Sand Bar, wo sie ein Teilzeitverhältnis mit Lester Moon hat, einem der Barmänner. Die Thunder Five hat Lester Moon aus irgendeinem Grund den Spitznamen »Stinky Cheese« verpasst, aber Tansy nennt ihn stets nur Lester, was er fast ebenso genießt wie den gelegentlichen alkoholisierten Fick in Tansys Schlafzimmer oder draußen hinter der Bar, wo es im Lagerraum eine Matratze (und eine abgeblendete Lampe) gibt. Gegen fünf Uhr abends hat Lester ihr eine Literflasche Kaffeebrandy und 400 Milligramm Oxigesic herübergebracht, das er rücksichtsvoll schon zerstoßen hatte, damit sie es gleich schnupfen konnte. Tansy hat bereits ein halbes Dutzend Lines
geschnupft und jetzt, wie gesagt, das Gefühl, über allem zu schweben. Sie sieht sich alte Fotos von Irma an und … na ja … scheint über allem zu schweben.
    Was für ein hübsches Baby sie war, denkt Tansy, ohne zu ahnen, dass nicht weit von ihr entfernt ein entsetzter Hotelangestellter ein sehr anderes Foto ihres hübschen Babys anstarrt, ein albtraumhaftes Polaroidbild, das er sein Leben lang nicht mehr vergessen wird. Dieses Foto wird Tansy sich zum Glück nie ansehen müssen, was immerhin suggeriert, dass es vielleicht doch einen Gott im Himmel gibt.
    Sie blättert um (auf dem Umschlag ihres Fotoalbums ist DIE SCHöNSTEN AUGENBLICKE eingeprägt) und hat jetzt ein Bild vor sich, das Tansy und die kleine Irma beim Picknick der Firma Mississippi Electrix zeigt, damals als Irma vier und Mississippi Electrix noch ein Jahr von der Pleite entfernt und alles mehr oder weniger in Ordnung war. Auf diesem Foto planscht Irma, deren lachendes Gesicht mit Schokoladeneis verschmiert ist, inmitten einer Gruppe Kleinkinder.
    Während Tansy weiter unverwandt diesen Schnappschuss anstarrt, greift sie nach ihrem Glas Kaffeebrandy und nimmt einen kleinen Schluck. Und plötzlich kommt ihr wie aus heiterem Himmel (oder aus dem Unterbewusstsein, aus dem alle unsere beunruhigenderen und unzusammenhängenden Gedanken ins Licht unserer Wahrnehmung heraufschweben) die Erinnerung an das blöde Gedicht von Edgar Allan Poe, das sie in der neunten Klasse auswendig lernen musste. Sie hat jahrelang nicht mehr daran gedacht und keinen Grund, das jetzt zu tun, aber die Worte des Eingangsverses steigen mühelos und vollständig in ihrem Bewusstsein auf. Während sie Irma betrachtet, leiert sie den Vers laut mit monotoner Stimme herunter, die ihre Lehrerin zweifellos dazu gebracht hätte, sich ächzend ihr strähniges weißes Haar zu raufen. Auf uns wirkt Tansys Rezitation sich nicht so aus; stattdessen bewirkt sie ein intensives, anhaltendes Frösteln. Wir haben das Gefühl, dem Gedichtvortrag einer Leiche zuzuhören.
    »Einst um eine Mittnacht graulich da ich trübe sann und traulich müde über manchem alten Folio längst vergessner Lehr da der Schlaf schon kam gekrochen scholl auf einmal leis ein
Pochen gleichwie wenn ein

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