Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
beobachten, wie er der schlanken jungen Frau, die ihre Tochter verloren hat, beim Aussteigen hilft. Der Nebel scheint ihr irgendwie deutlichere Umrisse und eine bizarre elektrische Aura im Blau des Widerscheins der Natriumdampflampen auf Beezers Oberarmen zu verleihen. Bei ihrem Anblick stößt die Menge einen kollektiven (und absurd liebevollen) Seufzer aus. Sie ist diejenige, die diese Menschen miteinander verbindet. Tansy Freneau war ihr ganzes Leben lang die Vergessene – sogar Cubby Freneau hat sie irgendwann vergessen, ist nach Green Bay abgehauen und hat sie hier zurückgelassen, damit sie sich mit Gelegenheitsarbeiten durchbringt und Arbeitslosenunterstützung kassiert. Nur Irma hat sich an sie erinnert, nur Irma hat sich etwas aus ihr gemacht, und jetzt ist Irma tot. Irma ist nicht hier, um zu sehen (außer sie blickt vom Himmel herab, denkt Tansy mit einem entfernten und stetig weiter zurückweichenden Teil ihres Verstandes), wie ihre Mutter plötzlich angehimmelt wird. Tansy Freneau ist heute Abend der Liebling von French Landings Auge und Herz geworden. Nicht seines Verstandes, weil ihm sein Verstand vorübergehend abhanden gekommen ist (vielleicht ist er auf der Suche nach seinem Gewissen), aber gewiss seines Auges und Herzens, ja. Und jetzt tritt Doodles Sanger zierlich wie das Mädchen, das sie einst war, auf diese Frau der Stunde zu. Was Doodles auf der Ladefläche von Freddys Truck hat liegen sehen, war ein Stück altes
Seil, schmutzig und ölig, aber stark genug, um für den gedachten Zweck geeignet zu sein. Unter ihren kleinen Fäusten hängt die Schlinge, die diese geschickten Hände auf der Fahrt in die Stadt geknüpft haben. Sie übergibt sie Tansy, die sie im verschwommenen Licht hochhält.
Die Menge seufzt wieder.
Mit der Schlinge in der erhobenen Hand, an einen weiblichen Diogenes erinnernd, der mehr auf der Suche nach einem ehrlichen Mann, als nach einem Kannibalen ist, der gelyncht werden muss, schreitet Tansy – selbst in Jeans und blutbeflecktem Sweatshirt eine zierliche Erscheinung – auf den Parkplatz voraus. Teddy, Doodles und Freddy Saknessum folgen ihr und schließlich alle anderen. Sie wälzen sich wie die hereinkommende Flut auf die Polizeistation zu.
Die Thunder Five stehen noch immer mit verschränkten Armen mit dem Rücken zur Mauer des Klinkergebäudes. »Scheiße, was machen wir jetzt?«, sagt Mouse.
»Ich weiß nicht, was ihr vorhabt«, sagt Beezer, »aber ich bleibe hier stehen, bis sie mich wegschleppen, was sie vermutlich auch tun werden.« Er sieht zu der Frau mit der hoch erhobenen Schlinge hinüber. Er ist ein großer Kerl, und er hat schon viele gefährliche Situationen überstanden, aber diese Person ängstigt ihn mit ihren ausdruckslosen, weit aufgerissenen Augen, die an die Augen einer Statue erinnern. Und sie hat etwas im Gürtel stecken. Etwas Schwarzes. Ist das ein Messer? Irgendeine Art Dolch? »Und ich werde nicht kämpfen, weil das zwecklos wäre.«
»Sie sperren hoffentlich die Türen ab?«, sagt Doc nervös. »Ich meine, die Cops werden doch die Eingänge verrammeln.«
»Ich glaube schon«, sagt Beezer, ohne Tansy Freneau aus den Augen zu lassen. »Aber wenn diese Leute Potter wirklich haben wollen, ist das für sie kein Hindernis. Verdammt, seht sie euch doch an! Das sind ein paar hundert.«
Tansy bleibt stehen, hält weiter die Seilschlinge hoch. »Bringt ihn raus«, sagt sie. Ihre Stimme klingt unnatürlich laut, so als hätte ein geschickter Arzt ihr einen Verstärker in die Kehle eingepflanzt. »Bringt ihn raus. Gebt uns den Killer!«
Doodles stimmt ein. »Bringt ihn raus!«
Und Teddy. »Gebt uns den Killer!«
Und Freddy. »Bringt ihn raus! Gebt uns den Killer!«
Und dann die anderen. Ihr Chor könnte fast der Soundtrack von George Rathbuns Fragen über Fragen sein, aber statt »Block that kick!« oder »Wisconsin vor!« kreischen sie: »Bringt ihn raus! Gebt uns den Killer!«
»Sie werden ihn sich holen«, murmelt Beezer. Sein Blick ist wild und ängstlich zugleich, als er sich an seine Truppe wendet. Auf seiner breiten Stirn steht der Schweiß in großen, vollkommen runden Tropfen. »Wenn sie die Leute genug aufgeputscht hat, kommt sie näher, und der Rest folgt ihr dicht auf den Fersen. Lauft nicht weg, nehmt nicht mal die Arme runter. Und lasst es zu, wenn sie nach euch grapschen. Wenn ihr den morgigen Tag erleben wollt, lasst sie gewähren. «
Die Menge steht knietief in Nebelschwaden wie in verschütteter Magermilch und
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