Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
sehr müde und voller Kummer.«
»Das übernehme ich«, sagt Doodles. Ihre Wangen glänzen tränennass. »Ich fahre sie mit Teddys Pickup heim, und wenn er mir die Schlüssel nicht gibt, schlage ich ihn k. o. Ich …«
Und in diesem Augenblick beginnt der Sprechgesang erneut, diesmal aus den hinteren Reihen der Menge: »Bringt ihn raus! Gebt uns den Killer! Gebt uns den Fisherman! Bringt den Fisherman raus!« Anfangs ist es nur ein Solopart, aber dann fallen
nacheinander weitere Stimmen ein, bis ein ganzer Sprechchor entsteht.
Noch immer an die Mauer der Polizeistation gelehnt, sagt Beezer St. Pierre: »Ach, Scheiße. Jetzt geht’s wieder los.«
Mit der Begründung, dass der Anblick einer Uniform die Menge provozieren könnte, hat Jack Dale verboten, ihn auf den Parkplatz zu begleiten. Er hat den kleinen Blumenstrauß in seiner Hand nicht erwähnt, und Dale hat kaum darauf geachtet; der Chief hat zu viel Angst, er könnte Potter durch den ersten Lynchmord verlieren, der in Wisconsin seit zweihundert Jahren stattfindet. Er ist jedoch mit Jack nach unten gegangen und hat sich jetzt als Dienstältester den Platz an dem in die Tür eingelassenen Spion gesichert.
Die restlichen FLPD-Cops sind weiterhin oben und starren aus den Fenstern des Bereitschaftsraums. Henry hat Bobby Dulac angewiesen, ihm die Ereignisse Spielzug für Spielzug zu schildern. Trotz seiner gegenwärtigen Sorge um Jack (Henry befürchtet, dass der Mob ihn mit mindestens 40-prozentiger Wahrscheinlichkeit niedertrampeln oder auseinander reißen wird), findet Henry die Beobachtung amüsant und schmeichelhaft, dass Bobby eigenartigerweise George Rathbun imitiert, ohne es überhaupt zu merken.
»Okay, Hollywood ist jetzt draußen … Er nähert sich der Frau … Keine Anzeichen von Angst … Die Menge ist verstummt … Jack und die Frau scheinen miteinander zu reden … und heiliger Jesus, er überreicht ihr einen Blumenstrauß! Was für eine Masche!«
»Masche« ist einer von George Rathbuns bevorzugten Sportausdrücken, wenn er beispielsweise sagt: Die Blitzangriffsmasche der Brew Crew hat gestern Abend im Miller Park wieder mal versagt.
»Sie wendet sich ab!«, ruft Bobby jubelnd. Er packt Henry an der Schulter und rüttelt ihn durch. »Verdammt, er hat’s geschafft, glaub ich. Jack hat sie abgewimmelt.«
»Sogar ein Blinder konnte sehen, dass er das getan hat«, sagt Henry.
»Und gerade noch rechtzeitig«, sagt Bobby. »Channel Five
ist schon da, und ich sehe auch einen weiteren Übertragungswagen mit einem von diesen großen orangeroten Aufbauten … Fox-Milwaukee, glaube ich … und …«
»Bringt ihn raus!«, beginnt draußen eine Stimme zu plärren. Sie klingt betrogen und empört. »Gebt uns den Killer! Gebt uns den Fisherman!«
»O nein!«, sagt Bobby, der sogar jetzt noch an George Rathbun erinnert, wenn dieser seinen Hörern am Morgen danach schildert, wie eine weitere Aufholjagd der Badgers angefangen hat, sich totzulaufen. »Nicht jetzt, wo das Fernsehen da ist! Das ist …«
»Bringt den Fisherman raus!«
Henry weiß bereits, wer das ist. Selbst durch zwei Scheiben Drahtglas ist dieser hohe, japsende Schrei unmöglich zu verkennen.
Wendell Green beherrscht sein Metier – man täte ihm unrecht, wollte man ihm das nicht zugestehen. Sein Job ist es, über Nachrichten zu berichten , Nachrichten zu analysieren , manchmal Nachrichten im Bild festzuhalten . Sein Job ist es nicht, Nachrichten zu machen. Aber heute Abend kann er einfach nicht anders. Es ist das zweite Mal innerhalb von zwölf Stunden, dass eine Story, mit der er Karriere machen könnte, in Reichweite seiner gierig grapschenden Hände gelangt, nur um ihm im letzten Augenblick wieder entrissen zu werden.
»Bringt ihn raus!«, plärrt Wendell. Er ist von der rohen Kraft seiner Stimme erst überrascht, dann begeistert. »Gebt uns den Killer! Gebt uns den Fisherman!«
Der Klang weiterer Stimmen, die in seinen Ruf einstimmen, bewirkt ein unglaubliches Hochgefühl. Da kriegt man echt einen Ständer, wie sein früherer Zimmergenosse im College zu sagen pflegte. Wendell tritt einen Schritt vor, seine Brust schwillt, seine Backen röten sich, sein Selbstbewusstsein wächst. Er nimmt vage wahr, dass der Ü-Wagen von Channel Five langsam durch die Menge auf ihn zurollt. Bald werden die Scheinwerfer mit fünf oder zehn Kilowatt durch den Nebel leuchten; bald werden Fernsehkameras ihn in grellem Scheinwerferlicht filmen. Und warum auch nicht? Wenn die Frau in dem
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