Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
skandiert: »Bringt ihn raus! Gebt uns den Killer!«
Wendell Green krakeelt eifrig mit, aber das hindert ihn nicht daran, weiter Fotos zu machen.
Scheiße auch, das ist die Story seines Lebens.
Von der Tür hinter sich hört Beezer ein Klicken. Yeah, sie haben sie abgesperrt, denkt er. Danke, ihr Nutten.
Aber das war nur der Riegel, nicht das Schloss. Die Tür wird geöffnet. Jack Sawyer tritt ins Freie. Er geht an Beezer vorbei, ohne zu ihm hinüberzusehen oder zu reagieren, als Beez murmelt: »He, Mann, der würd ich lieber nicht zu nahe kommen.«
Jack bewegt sich langsam, aber nicht zögerlich in das Niemandsland zwischen dem Gebäude und dem Mob, an dessen Spitze die Frau steht: Lady Liberty mit einer Henkersschlinge statt einer Fackel in der erhobenen Hand. In seinem schlichten grauen Hemd ohne Kragen und seiner dunklen Hose sieht Jack wie ein Kavalier aus einem alten Märchen aus, der unterwegs ist, um einen Heiratsantrag zu machen. Der Blumenstrauß, den er in einer Hand trägt, verstärkt den Eindruck noch. Diese winzigen weißen Blüten sind das gewesen, was Speedy im Waschbecken von Dales Privattoilette für ihn zurückgelassen
hat, ein Strauß aus unglaublich duftenden wei ßen Blüten.
Es sind Maiglöckchen, und sie stammen aus den Territorien. Speedy hat ihm keine Gebrauchsanweisung für sie dagelassen, aber Jack braucht keine.
Die Menge verstummt. Nur Tansy, die in der von Gorg für sie erschaffenen Welt gefangen ist, skandiert weiter: »Bringt ihn raus! Gebt uns den Killer!« Sie hört erst auf, als Jack unmittelbar vor ihr steht, und er bildet sich nicht ein, dass sein gut geschnittenes Gesicht oder seine elegante Erscheinung ihre kreischende Wiederholung beendet haben. Das war der Duft der Blumen, deren süßer, vibrierender Duft das genaue Gegenteil des schrecklichen Verwesungsgeruchs ist, der über dem Ed’s Eats gehangen hat.
Ihr Blick wird klar … zumindest ansatzweise.
»Bring ihn raus«, sagt sie zu Jack. Es klingt fast wie eine Frage.
»Nein«, sagt er, und das Wort ist voll herzzerreißender Zärtlichkeit. »Nein, meine Liebe.«
Doodles Sanger, die hinter Tansy steht, denkt plötzlich das erste Mal seit etwa zwei Jahrzehnten an ihren Vater und beginnt zu weinen.
»Bring ihn raus«, bittet Tansy flehentlich. Auch ihre Augen füllen sich jetzt mit Tränen. »Bring das Monster raus, das mein hübsches Baby umgebracht hat.«
»Hätte ich ihn, täte ich’s vielleicht«, sagt Jack. »Vielleicht täte ich’s wirklich.« Obwohl er weiß, dass er’s nie täte. »Aber der Mann, den wir haben, ist nicht der Kerl, den ihr wollt. Er ist nicht der Richtige.«
»Aber Gorg hat gesagt …«
Das ist ein Wort, das er kennt. Eines der Wörter, die Judy Marshall aufzuessen versucht hat. Jack, der jetzt nicht in den Territorien, sondern ganz in dieser Welt ist, streckt eine Hand aus und zieht ihr die Feder aus dem Gürtel. »Hast du die von Gorg?«
»Ja …«
Jack lässt sie fallen, dann tritt er darauf. Einen Augenblick
lang glaubt er – weiß er -, dass sie unter der Schuhsohle wütend summt wie eine halb zertretene Wespe. Dann wird sie still. »Gorg lügt, Tansy. Was immer Gorg sein mag, er lügt. Der Mann dort drinnen ist nicht der Richtige.«
Tansy stößt einen klagenden Schrei aus und lässt das Seil fallen. Hinter ihr geht wieder ein Seufzen durch die Menge.
Jack legt einen Arm um sie und denkt wieder an George Potters peinlich berührende Würde; er denkt an all die Verirrten, die sich weiterkämpfen, ohne dass eine einzige klare Morgendämmerung aus den Territorien ihren Weg erhellt. Er drückt sie an sich und riecht Schweiß und Kummer und Wahnsinn und Kaffeebrandy.
Er flüstert ihr ins Ohr: »Ich fange ihn für dich, Tansy.«
Sie erstarrt. »Du …«
»Ja.«
»Du … versprichst es mir?«
»Ja.«
»Er ist wirklich nicht der Richtige?«
»Nein, meine Liebe.«
»Schwörst du’s?«
Jack gibt ihr die Maiglöckchen und sagt: »Beim Andenken meiner Mutter.«
Sie steckt die Nase in den Strauß und atmet den Blütenduft tief ein. Als sie wieder den Kopf hebt, sieht Jack, dass die Gefährlichkeit sie verlassen hat, nicht jedoch der Wahnsinn. Sie gehört jetzt zu den armen Verirrten. Irgendetwas hat sich ihrer bemächtigt. Vielleicht verlässt es sie ja wieder, sobald der Fisherman gefasst ist. Das würde Jack gern glauben.
»Irgendjemand sollte diese Frau nach Hause bringen«, sagt Jack. Obwohl er in mildem Gesprächston spricht, versteht die Menge ihn gut. »Sie ist
Weitere Kostenlose Bücher