Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
kommt Jack an zwei Schildern vorbei. EIN ANRUF HEIßT EIN ANRUF, steht auf dem ersten. AA-TREFFEN MONTAGS 19 UHR; NA-TREFFEN DONNERSTAGS 20 UHR , steht auf dem zweiten. Hier gibt es auch einen verstaubten Trinkwasserspender und einen uralten Feuerlöscher, den irgendein Witzbold mit LACHGAS beschriftet hat.
Jack erreicht die vergitterte Zelle und klopft mit seinem Hausschlüssel an einen Gitterstab. Potter wendet sich schließlich vom Fenster ab. Jack, der sich noch in jenem Zustand übersteigerter Wahrnehmungsfähigkeit befindet, den er jetzt als eine Art Nachwirkung der Territorien erkennt, sagt ein einziger knapper Blick die ganze Wahrheit über diesen Mann. Sie spricht aus den tief in ihren Höhlen liegenden Augen und den dunklen Schatten unter ihnen; aus den blassen, gelblichen Wangen und den leicht eingesunkenen Schläfen mit ihrem zarten Geflecht aus blauen Äderchen; aus der allzu scharf vorspringenden Nase.
»Hallo, Mr. Potter«, sagt er. »Ich möchte mit Ihnen reden, aber wir müssen uns beeilen.«
»Die wollten mich haben«, bemerkt Potter.
»Ja.«
»Vielleicht hätten Sie mich ihnen überlassen sollen. In drei, vier Monaten bin ich sowieso aus dem Rennen.«
Jack zieht die Magnetkarte, die Dale ihm gegeben hat, aus der Hemdtasche und benützt sie, um die Zellentür zu entriegeln. Sie scheppert quietschend, während sie das kurze Stück zurückrollt. Als Jack die Karte herauszieht, verstummt das Summen des Elektroantriebs. Unten im Bereitschaftsraum signalisiert jetzt eine gelbe Leuchte mit der Aufschrift AZ 3, dass die Zellentür offen ist.
Jack kommt herein und setzt sich auf das Fußende der Koje. Er hat den Schlüsselring eingesteckt, weil er nicht will, dass sein Metallgeruch den Maiglöckchenduft verdirbt. »Wo haben Sie’s denn?«
Ohne zu fragen, woher Jack das weiß, hebt Potter eine gro ße knotige Hand – eine Zimmermannshand – und berührt seinen Bauch. Dann lässt er sie wieder sinken. »Im Unterleib hat’s angefangen. Das war vor fünf Jahren. Ich hab brav die Pillen geschluckt und mir die Spritzen geben lassen. Das war in La Riviere. Dieses Zeug … Mann, ich hab überall hingekotzt. An Straßenecken und überall sonst. Einmal hab ich im Bett gekotzt und es nicht mal gemerkt. Bin am nächsten Morgen mit eingetrockneter Kotze auf der Brust aufgewacht. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, Sohn?«
»Meine Mutter hatte Krebs«, sagt Jack ruhig. »Als ich zwölf war. Dann ist er verschwunden.«
»Hat sie danach noch fünf Jahre gelebt?«
»Länger.«
»Glück gehabt«, sagt Potter. »Aber zuletzt hat er sie doch erwischt, stimmt’s?«
Jack nickt.
Potter nickt ebenfalls. Sie sind noch keine Freunde, aber auf dem Weg dorthin. Das ist Jacks Methode, so hat er immer gearbeitet.
»Dieser Scheiß nistet sich ein und wartet«, erklärt Potter ihm. »Meine Theorie ist, dass er nie ganz verschwindet, nicht richtig. Jedenfalls bin ich mit den Spritzen durch. Mit den Pillen
auch. Außer mit denen, die gegen Schmerzen helfen. Ich bin zum Finale hergekommen.«
»Weshalb?« Das ist zwar nichts, was Jack unbedingt wissen muss, und die Zeit drängt, aber das ist nun einmal seine Methode, und er denkt nicht daran, ein bewährtes Verfahren abzukürzen, nur weil unten diese zwei Schwachköpfe von der State Police darauf warten, diesen Mann mitnehmen zu können. Dale wird sie hinhalten müssen, das ist alles.
»Scheint eine ganz nette kleine Stadt zu sein. Und ich mag den Fluss. Ich gehe jeden Tag zu ihm runter. Es gefällt mir, wenn die Sonne auf dem Wasser glitzert. Manchmal denke ich an all die Aufträge, die ich ausgeführt habe – Wisconsin, Minnesota, Illinois -, und manchmal denke ich an fast nichts. Manchmal sitze ich einfach nur auf der Bank und bin innerlich ganz ruhig.«
»Was waren Sie von Beruf, Mr. Potter?«
»Hab als Zimmerer angefangen, genau wie Jesus. Hab’s zum Baumeister gebracht, aber das ist mir zu Kopf gestiegen. Passiert das einem Baumeister, fängt er gewöhnlich an, sich Bauunternehmer zu nennen. Ich hab drei, vier Millionen Dollar verdient, hatte einen Cadillac, hatte eine junge Frau, die mich an Freitagabenden bedient hat. Nette junge Frau. Keine Probleme. Dann hab ich alles verloren. Das Einzige, was mir echt Leid getan hat, war der Cadillac. Der war bequemer als die Frau. Dann hab ich meine schlechte Nachricht gekriegt und bin hierher gekommen.«
Er sieht Jack an.
»Wissen Sie, was ich manchmal denke? Dass French Landing einer besseren Welt nahe ist, in
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