Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
nie etwas wie den Gestank gerochen, der hier in diesem Raum herrscht. Er hört nicht nur einen, sondern gleich zwei Tischventilatoren summen und spürt die sich kreuzenden Luftströme, aber dieser pestilenzialische Gestank ist zu klebrig, um sich vertreiben zu lassen. Einerseits stinkt es hier nach verdorbenem Fleisch – nach Wundbrand in Gewebe und Knochen -, aber so etwas hat Jack schon früher gerochen. Die andere Gestanknote setzt ihm mehr zu: ein grausiges Gemisch aus Blut und Grabblumen und Exkrementen. Er gibt ein würgendes Geräusch von sich, das er einfach nicht unterdrücken kann, und Beezer sieht ihn mit gewissem ungeduldigen Mitgefühl an.
»Schlimm, yeah, ich weiß. Aber stellen Sie sich ein Affenhaus im Zoo vor, Mann – nach einiger Zeit gewöhnt man sich daran.«
Die Schwingtür nach nebenan wird aufgestoßen, und eine schlanke, kleine Frau mit schulterlangem blondem Haar kommt herein. Sie trägt eine Schüssel. Als das Licht auf den auf der Couch liegenden Mouse fällt, schreit er auf. Es ist ein entsetzlich gurgelnder Laut, als hätte die Lunge des Mannes angefangen, sich zu verflüssigen. Etwas – vielleicht Rauch, vielleicht Dampf – beginnt von der Haut seiner Stirn aufzusteigen.
»Halt durch, Mouse«, sagt der Kniende. Es ist Doc. Bevor die Küchentür sich wieder ganz schließt, kann Jack lesen, was auf seiner abgewetzten schwarzen Ledertasche steht. Irgendwo in Amerika mag es einen weiteren Mediziner geben, der seine Arzttasche mit dem Aufkleber STEPPENWOLF RULES verziert hat, aber vermutlich nicht hier in Wisconsin.
Die Blondine kniet sich neben Doc nieder, der daraufhin ein Tuch aus der Schüssel nimmt, es flüchtig auswringt und dann Mouse auf die Stirn legt. Mouse stöhnt zitterig, dann beginnt er am ganzen Leib zu schlottern. Wasser läuft ihm übers Gesicht in den Bart. Der Bart scheint in räudigen Flecken auszufallen.
Jack tritt vor und sagt sich, dass er sich an den Gestank gewöhnen wird, natürlich wird er das. Vielleicht stimmt das sogar. Vorerst wünscht er sich aber, er hätte etwas von dem Pinimentol dabei, das die meisten Kriminalbeamten der LAPD-Mordkommission gewohnheitsmäßig im Handschuhfach liegen haben. Zwei Tupfer unter beide Nasenlöcher wären jetzt höchst willkommen.
Hier im Wohnzimmer gibt es eine Hi-Fi-Anlage (vergammelt) und zwei Lautsprecher (riesig) in den Ecken des Raums, aber keinen Fernseher. An allen Wänden sind zwischen Türen und Fenstern mit Büchern gefüllte Holzkisten aufgestapelt, die das Zimmer noch kleiner, fast gruftartig machen. Jack, der etwas zu Klaustrophobie neigt, fühlt deren erste Anzeichen, die sein Unbehagen noch verstärken. Die meisten Bücher scheinen von Religion und Philosophie zu handeln – er sieht Descartes, C. S. Lewis, die Bhagawadgita, Steven Averys Grundsätze der Existenz -, aber es gibt auch viele Romane, Fachliteratur übers Bierbrauen und (auf einem der riesigen Lautsprecher) Albert Goldmans schundigen Wälzer über Elvis Presley. Auf dem anderen Lautsprecher steht das Foto eines kleinen Mädchens mit strahlendem Lächeln, Sommersprossen und einem Meer von rotblondem Haar. Der Anblick des Kindes, das die Quadrate für »Himmel und Hölle« mit Kreide draußen auf den Fußweg gemalt hat, erfüllt Jack Sawyer mit Trauer und Zorn. Bei dieser Geschichte mögen Wesen und Ursachen aus anderen Welten eine Rolle spielen, aber hier strolcht auch ein
perverser alter Furzer herum, dem das Handwerk gelegt werden muss. Das darf er über allem anderen nicht vergessen.
Bear Girl macht Jack vor der Couch Platz; sie bewegt sich graziös, obwohl sie kniet und weiter die Schüssel in den Händen hält. Jack sieht darin zwei weitere nasse Tücher und einen kleinen Haufen schmelzender Eiswürfel. Bei diesem Anblick fühlt er sich durstiger als je zuvor. Er nimmt einen Eiswürfel heraus und steckt sich ihn in den Mund. Dann wendet er seine Aufmerksamkeit ganz Mouse zu.
Eine karierte Reisedecke ist bis unter sein Kinn hochgezogen. Die Stirn und der Bereich um die Backenknochen – die einzigen nicht von seinem ausfallenden Bart bedeckten Hautflächen – sind teigig. Die Augen hat er geschlossen. Die hochgezogenen Lippen lassen überraschend weiße Zähne sehen.
»Ist er …«, beginnt Jack, aber da öffnet Mouse auch schon die Augen. Jack vergisst sofort, was er eigentlich hatte sagen wollen. Um die haselnussbraunen Iris herum haben die Augen von Mouse sich zu einem unheimlichen, changierenden Scharlachrot verfärbt. Man könnte
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