Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
vor sich ausgestreckter Hand durch den Flur und testet die Luft auf Hindernisse und Gegenstände, die vielleicht nicht an ihrem angestammten Platz stehen. Die einzigen Geräusche sind das Flüstern der Klimaanlage, das Summen des Kühlschranks, das Klicken seiner Absätze auf dem Hartholzfußboden …
… und ein Seufzer.
Ein verliebter Seufzer.
Henry bleibt einen Augenblick unbeweglich stehen, dann dreht er sich vorsichtig um. Ist der süße Duft jetzt etwas stärker, vor allem aus dieser anderen Richtung, aus Richtung Haustür und Wohnzimmer? So scheint es zu sein. Und es sind keine Blumen; es hat keinen Zweck, sich in dieser Beziehung etwas vorzumachen. Seine Nase weiß es wie immer besser. Das ist der Duft von My Sin.
»Rhoda?«, sagt er, und dann leiser: »Lerche?«
Keine Antwort. Natürlich nicht. Er ist nur kribbelig und nervös, das ist alles; er hat das große Zittern – und wer würde es ihm verdenken?
»Weil ich der Scheich bin, Baby«, sagt Henry. »The Sheik, the Shake, the Shook of Araby.«
Keine Düfte. Keine sexy Seufzer. Und trotzdem verfolgt ihn die Vorstellung, seine Frau stehe im Wohnzimmer, stehe in ihrem parfümierten Totenhemd dort und habe ihn schweigend beobachtet, als er hereingekommen und blind an ihr vorbeigegangen ist. Seine Lerche, die auf einen kleinen Besuch vom Friedhof Nogging Mound zurückgekommen ist. Vielleicht um sich die neueste CD von Slobberbone anzuhören.
»Schluss damit«, sagt er leise. »Hör auf, Blödmann.«
Er geht in seine große, durchorganisierte Küche. Als er über die Schwelle tritt, klatscht er mit der Handfläche auf einen Knopf im Schalterfeld neben der Tür, ohne sich dessen bewusst zu sein. Mrs. Mortons Stimme kommt aus einem Hightech-Deckenlautsprecher, dessen Wiedergabe fast so perfekt ist, als stände die Frau jetzt vor ihm im Raum.
»Jack Sawyer war hier und hat noch eine Kassette dagelassen, die Sie sich anhören sollen. Er hat gesagt, dass darauf … Sie wissen schon, dieser Mann zu hören ist. Dieser böse Mann.«
»Böser Mann, ganz recht«, murmelt Henry, öffnet den Kühlschrank und genießt den herausströmenden Schwall kalter Luft. Er greift unfehlbar nach einer der drei in der Tür stehenden Dosen Kingsland Lager. Auf Eistee hat er keinen Durst mehr.
»Beide Kassetten liegen in Ihrem Studio neben dem Mischpult.
Außerdem möchte Jack, dass Sie ihn auf seinem Handy anrufen.« Mrs. Mortons Stimme nimmt einen leicht belehrenden Tonfall an. »Wenn Sie mit ihm reden, sollten Sie ihn bitten, vorsichtig zu sein. Und seien Sie selbst vorsichtig.« Eine Pause. »Und vergessen Sie nicht, zu Abend zu essen. Ihr Essen steht fertig im Kühlschrank. Zweites Fach von oben, links von Ihnen.«
»Mecker, mecker«, sagt Henry, aber er lächelt, während er die Bierdose aufreißt. Er geht ans Telefon und wählt Jacks Nummer.
Auf dem Beifahrersitz des vor dem Haus Nailhouse Row Nr. 1 geparkten Dodge Ram erwacht Jacks Handy zum Leben. Diesmal ist niemand im Fahrerhaus, den das leise, aber durchdringende Piepsen belästigen könnte.
»Der gewählte Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.«
Henry legt auf, geht zur Küchentür und drückt dort einen anderen Knopf im Schalterfeld. Die Stimmen, die Uhrzeit und Temperatur ansagen, sind alle Versionen seiner eigenen, aber er hat die Ansage auf Zufallswiedergabe programmiert, sodass er nie weiß, wen er bekommen wird. Diesmal ist es die Wisconsin Rat, die in der sonnigen, klimatisierten Stille seines Hauses, das ihm noch nie so stadtfern vorgekommen ist wie heute, wie verrückt loskreischt:
»Sechzehn Uhr zwanzig! Außentemperatur achtundzwanzig! Innentemperatur einundzwanzig! Was zum Teufel kümmert dich das? Was zum Teufel kümmert das irgendwen? Kaut’s runter, esst’s auf, spült’s runter, aaalles kommt …«
… an der gleichen Stelle raus. Genau. Henry drückt den Knopf noch einmal und unterbricht so das charakteristische Brüllen der Ratte. Wie ist es so schnell so spät geworden? Gott, war’s nicht eben noch Mittag? Und war er nicht eigentlich gerade noch jung, zwanzig Jahre alt und so voller Mumm, dass er ihm praktisch aus den Ohren kam? Was ist …
Dann ist wieder dieser Seufzer zu hören und bringt seinen größtenteils selbstironischen Gedankengang durcheinander.
Ein Seufzer? Wirklich? Vermutlich ist das nur der Kompressor der Klimaanlage, der sich gerade ausgeschaltet hat. Das kann er sich zumindest einreden.
Das kann er sich
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