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Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus

Titel: Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stephen;Straub King
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LIBT MARYANN! JA! auf dem Schild, das auf dem kahlen Rasen steht, suggerieren erstens, dass Troy viel Zeit damit verbringt, KDCU-AM zu hören, und zweitens, dass Maryann ihn ihrerseits liebt. Gut für Troy, gut für Maryann. Jack applaudiert diesem Liebesbekenntnis, selbst in grellrosa Sprühfarbe, und wünscht den Liebenden Glück und Wohlergehen. Falls man im gegenwärtigen Stadium seiner Existenz behaupten könnte, er liebe irgendjemanden, fällt ihm dabei ein, würde dieser Mensch Henry Leyden sein müssen. Nicht in dem Sinn, in dem Troy seine Maryann liebt oder sie ihn, aber er
liebt ihn trotzdem, das war ihm bisher noch nie so klar wie in diesem Augenblick.
    Henry überquert die letzten Gehwegplatten und nähert sich dem Randstein. Ein letzter Schritt bringt ihn zur Tür des Pickups; seine Hand schließt sich um den versenkten Türgriff; er öffnet die Tür, steigt hinauf und rutscht auf den Beifahrersitz. Er legt den Kopf leicht schief, wendet das rechte Ohr der Musik zu. Die dunklen Gläser seiner Pilotenbrille glänzen.
    »Wie schaffst du das bloß?«, sagt Jack. »Diesmal hat dir wahrscheinlich die Musik geholfen, aber sonst brauchst du sie nie.«
    »Weil ich echt total abgedreht bin«, sagt Henry. »Dieses hübsche Wort habe ich von unserem kiffenden Volontär Morris Rosen, der so freundlich war, es auf mich anzuwenden. Morris hält mich für den lieben Gott, aber er muss auch Grips haben, er hat nämlich rausgekriegt, dass George Rathbun und die Wisconsin Rat identisch sind. Ich kann nur hoffen, dass der Junge die Klappe hält.«
    »Das hoffe ich auch«, sagt Jack, »aber du lenkst vom Thema ab. Also, wie schaffst du es, die Tür immer gleich beim ersten Mal zu öffnen? Wie findest du den Türgriff, ohne danach zu tasten?«
    Henry seufzt. »Der Griff sagt mir, wo er ist. Offenkundig. Ich brauche nur auf ihn zu hören.«
    »Der Türgriff macht ein Geräusch? «
    »Nicht wie dein Hightech-Radio und die Goldberg-Variationen, nein. Mehr eine Art Vibration. Der Ton eines Geräuschs. Der Ton in einem Geräusch. Ist Daniel Barenboim nicht ein großartiger Pianist? Mann, hör dir das an – jede Note mit einer anderen Klangfarbe. Da möchte man am liebsten den Deckel seines Steinways küssen, Baby. Stell dir die Muskeln seiner Hände vor.«
    »Das ist Barenboim?«
    »Ha, wer könnte’s sonst sein?« Henry wendet den Kopf langsam Jack zu. Um seine Mundwinkel spielt ein irritierendes Lächeln. »Ah. Ich verstehe, ja. Da ich dich kenne, du armer Banause, sehe ich dir an, dass du geglaubt hast, Glenn Gould zu hören.«

    »Hab ich nicht«, sagt Jack.
    »Bitte.«
    »Ich hab mich zwar ungefähr eine Minute lang gefragt, ob das Gould sein könnte, aber …«
    »Nein, nein, nein. Versuch’s nicht mal. Deine Stimme verrät dich. Du sprichst jedes Wort mit einem winselnden kleinen Topspin aus, wirklich erbärmlich. Fahren wir jetzt ins Norway Valley zurück, oder möchtest du hier sitzen bleiben und mir weiter was vorlügen? Ich muss dir auf der Heimfahrt was erzählen.« Er hält die CD hoch. »Komm, wir wollen dich von deinen Qualen erlösen. Die hat der Kiffer mir gegeben – Dirtysperm mit einem alten Song der Supremes. Ich persönlich hasse solches Zeug, aber für die Wisconsin Rat könnte es genau richtig sein. Spiel mal Track sieben.«
    Der Pianist klingt überhaupt nicht mehr wie Glenn Gould, und die Musik scheint die Hälfte ihres früheren Tempos eingebüßt zu haben. Jack erlöst sich also von seinen Qualen und schiebt die CD in den Schlitz unter dem Autoradio. Er drückt auf eine Taste, dann auf eine zweite. In wahnsinnig schnellem Tempo gellt das Kreischen von Verrückten, die unter unbeschreiblichen Foltern leiden, aus den Lautsprechern. Jack wirft sich aufgeschreckt in den Sitz zurück. »Mein Gott, Henry«, sagt er und greift nach dem Lautstärkeregler.
    »Trau dich ja nicht, den Knopf anzufassen«, sagt Henry. »Wenn dir von diesem Scheiß nicht die Ohren bluten, ist er sein Geld nicht wert.«
     
    »Ohren«, das weiß Jack, ist ein Jazzer-Ausdruck für die Fähigkeit, das innere Gefüge von Musik zu erfassen, während man sie hört. Ein Musiker mit guten Ohren kann die Songs und Arrangements, die er spielen soll, rasch auswendig, erfasst die harmonische Bewegung, mit der das Thema unterlegt ist, oder kennt sie bereits und folgt den Transformationen und Substitutionen dieses Themas, die seine Musikerkollegen einführen. Unabhängig davon, ob er geschriebene Noten genau lesen kann, lernt ein Musiker mit

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