Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
das ruinierte Frühstück, den lächerlichen Anruf und die zerstörerischen, blitzartig auftretenden Bilder weg. Es wird Zeit, in die Gänge zu kommen und loszufahren. In fünfundzwanzig Minuten wird Jack Sawyers bester Freund und einziger Vertrauter mit seiner gewohnten Aura von Rundumwahrnehmung aus dem Hauptausgang des aus Hohlblocksteinen erbauten Sendegebäudes von KDCU-AM treten, die Flamme seines goldenen Feuerzeugs an eine Zigarette halten und den Gehweg zum Peninsula Drive hinuntergleiten. Sollte seine Rundumwahrnehmung ihn darüber informieren, dass Jack Sawyers Pickup wartet, wird Henry Leyden unfehlbar den Türgriff erfassen und einsteigen. Diese Demonstration von Coolness bei einem Blinden ist zu erstaunlich, als dass man sie verpassen dürfte.
Und Jack verpasst sie tatsächlich nicht, denn trotz allen Schwierigkeiten an diesem Morgen, die aus der ausgeglichenen, reiferen Perspektive, die ihm seine Fahrt durch die herrliche Landschaft gewährt, irgendwann trivial erscheinen, hält sein Pickup um 7.55 Uhr, gut fünf Minuten, bevor sein Freund in die Sonne hinaustreten wird, an dem zum Peninsular Drive hinunterführenden Gehweg vor dem Sendegebäude von KDCU-AM. Henry wird ihm gut tun; allein Henrys Anblick wird wie eine Dosis Seelentrost wirken. Jack kann bestimmt nicht der erste Mensch, Mann oder Frau, in der Geschichte der Menschheit sein, der (die) unter Stress vorübergehend den Bezug zur Realität verloren und irgendwie halbwegs vergessen hat, dass seine (ihre) Mutter dieses irdische Jammertal längst verlassen hat und in höhere Sphären aufgestiegen ist. Gestresste Sterbliche neigen von Natur aus dazu, sich an ihre Mütter zu wenden, um Trost und Bestätigung zu finden. Der Impuls dazu ist in unsere DNS kodiert. Wenn er diese Geschichte hört, wird Henry leise glucksend lachen und ihm raten, sich am Riemen zu reißen.
Aber wozu bei näherer Überlegung Henrys Himmel mit einer so absurden Geschichte verdunkeln? Das Gleiche gilt für das Rotkehlchenei, vor allem weil Jack seinem Freund Henry bisher nichts von seinem Wachtraum mit dem Wirbelsturm aus Federn erzählt und keine Lust hat, sich auf eine zwecklose umständliche Rekapitulation einzulassen. Lebe in der Gegenwart; lass die Vergangenheit sich in ihrem Grab ausstrecken; halt den Kopf hoch und mach einen Bogen um die Schlammpfützen; erwarte von deinen Freunden keine Therapie.
Er stellt das Radio an und drückt auf die Speichertaste für KWLA-FM, dem College-Sender aus La Riviere, bei dem die Wisconsin Rat und Henry the Sheik, the Shake, the Shook of Araby zu Hause sind. Von dem, was funkelnd aus den verdeckten Einbaulautsprechern im Fahrerhaus dringt, sträuben sich ihm die Haare an den Armen: Glenn Gould, sein inneres Auge leuchtend geöffnet, donnert durch etwas von Bach, Jack weiß nicht genau, was. Aber bestimmt Glenn Gould, bestimmt Bach. Vielleicht eine der Partiten.
Henry Leyden kommt mit einer CD-Hülle in der Hand aus
dem bescheidenen Ausgang des Sendegebäudes geschlendert, tritt in die Sonne und gleitet dann, ohne zu zögern, den Plattenweg entlang, wobei die Gummisohlen seiner schokoladebraunen Slipper jeweils die Mitte der nächsten Platte treffen.
Henry … Henry ist eine Vision.
Heute, stellt Jack fest, trägt Henry eines seiner Ensembles aus der Garderobe des Besitzers einer malaysischen Teakplantage: ein elegantes kragenloses Hemd, schimmernde Hosenträger und seinen bis zum Gehtnichtmehr geknifften Panamahut, ein altes Erbstück. Hätte Henry ihn nicht so in seinem Leben willkommen geheißen, hätte Jack nicht gewusst, dass die Fähigkeit seines Freundes, sich tadellos zu kleiden, von der höchst durchdachten Organisation seines riesigen Einbaukleiderschranks abhing, für die Rhoda Gilbertson Leyden, Henrys verstorbene Frau, schon vor vielen Jahren gesorgt hatte. Rhoda hatte sämtliche Einzelteile seiner Garderobe nach Jahreszeit, Stil und Farbe eingeordnet, und Henry hatte sich das gesamte System Stück für Stück eingeprägt. Obwohl Henry blind geboren und deshalb nicht imstande ist, zwischen zueinander passenden und nicht passenden Farbtönen zu unterscheiden, irrt er sich nie.
Henry zieht ein goldenes Feuerzeug und eine gelbe Packung American Spirits aus der Hemdtasche, zündet sich eine Zigarette an, stößt eine leuchtende Wolke aus, die im Sonnenschein milchig wirkt, und setzt dann seinen gleichmäßigen Weg über den Plattenbelag fort.
Die in Pink gesprühten, nach links geneigten Großbuchstaben von TROY
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