Das schwarze Manifest
meinte Irvine. »Wir wissen, daß es nach der Wahl nur noch schlimmer für Rußland kommen wird. Was sind denn die Alternativen? Chaos, möglicherweise das Auseinanderbrechen, vielleicht sogar Bürgerkrieg wie in Jugoslawien. Ohne Stabilität kann es aber keinen Wohlstand geben. Rußland treibt wie ein ankerund ruderloses Schiff im Sturm auf hoher See. Mit ihm sind alle Menschen an Bord den Wellen hilflos preisgegeben. Es ist eine Frage der Zeit, wann es auseinanderbricht und alle ertrinken.
Oder aber es kommt eine Diktatur, eine blutige Tyrannei, die alles in den Schatten stellt, was Ihr ohnehin schon seit Jahrhunderten geschundenes Land hat erdulden müssen. Welche Zukunft wäre Ihnen denn lieber für Ihr Volk?«
»Keine!« stöhnte der Patriarch. »Das eine wäre genauso entsetzlich wie das andere.«
»Dann denken Sie daran, daß eine konstitutionelle Monarchie immer ein Bollwerk gegen jeden Despotismus ist.
Beides nebeneinander ist nicht möglich. Das eine oder das andere muß verschwinden. Alle Nationen brauchen ein Symbol, an das sie sich in schlechten Zeiten halten können, das die Menschen über Sprach- und Clangrenzen hinweg miteinander vereint. Komarow wird zu so einem Symbol, zu einer Ikone aufgebaut. Keiner wird gegen ihn und für das Vakuum stimmen. Es muß eine andere Ikone geben, die eine echte Alternative darstellt.«
»Aber für die Restauration predigen…«, wollte der Patriarch protestieren, doch Irvine, der immer noch ganz gut russisch verstand, schnitt ihm das Wort ab.
»Hieße ja nicht unbedingt gegen Komarow predigen, was Sie jetzt befürchten. Es hieße für eine neue Stabilität, für eine Ikone predigen, die oberhalb der Politik angesiedelt ist. Komarow könnte Ihnen nicht vorwerfen, Sie würden sich in die Politik einmischen, ihn am Ende bekämpfen, selbst wenn er vielleicht ahnte, was sich gegen ihn zusammenbraut. Aber das ist bei weitem nicht der einzige Faktor.«
Geschickt breitete Nigel Irvine vor dem Patriarchen die verlockenden Aussichten aus: die Vereinigung von Kirche und Thron, die Wiederherstellung der orthodoxen Kirche in ihrer ganzen Pracht, die Rückkehr des Patriarchen von Moskau und aller Russenländer in seinen Palast innerhalb der Kremlmauern, die Möglichkeit von Krediten durch die westlichen Länder, weil dann wieder Stabilität gewährleistet wäre.
»Was Sie da sagen, klingt sehr logisch und wärmt mir das Herz«, antwortete Alexei II. nach längerem Überlegen. »Aber ich kenne das Schwarze Manifest und weiß, wozu der Mann fähig ist. Meine Brüder im Herrn, die Bischöfe, würden mir das jedoch nie glauben. Und wenn es veröffentlicht wird, ist vielleicht sogar die Hälfte der Bevölkerung dafür. Nein, Sir Nigel, ich überschätze meine Herde bestimmt nicht.«
»Aber wenn sich eine andere Stimme meldete? Nicht Ihre, Eure Heiligkeit, sondern eine mit Ausstrahlung und Überzeugungskraft, die Ihre heimliche Unterstützung hat?«
Irvine meinte Pater Gregor Rusakow, den Querdenker innerhalb der orthodoxen Kirche, dem der Patriarch gegen den Widerstand einiger altmodischer Bischöfe die Erlaubnis zu predigen erteilt hatte.
Pater Rusakow war in seiner Jugend von sämtlichen Priesterseminaren abgelehnt worden. Für den KGB, der sich buchstäblich überall eingemischt hatte, war er einfach zu intelligent und leidenschaftlich gewesen. So hatte er sich in ein einsames Kloster in Sibirien zurückgezogen, dort die Priesterweihe empfangen und war dann Wanderprediger ohne eigene Gemeinde geworden. Überall im Land hatte er die Leute mit seinen Predigten begeistert und war, ehe ihn die Geheimpolizei festnehmen konnte, wieder verschwunden.
Natürlich wurde er trotzdem bald verhaftet und wegen seiner angeblich staatsfeindlichen Äußerungen zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Vor Gericht lehnte er den vom Staat gestellten Verteidiger ab und hielt selbst eine so brillante Verteidigungsrede daß die Richter nicht umhin konnten, als öffentlich einzugestehen, daß sie die sowjetische Verfassung vergewaltigten.
Als Pater Gregor aufgrund von Gorbatschows Amnestie für Geistliche wieder freigelassen wurde, hatte er nichts von seinem Feuer eingebüßt. In seinen Predigten geißelte er nun auch die Korruption und die Feigheit der Bischöfe, woraufhin sich einige heftig bei Alexei beklagten und seine erneute Inhaftierung forderten.
In der Soutane eines Gemeindepfarrers ging Alexei zu einer dieser Versammlungen, um selbst einen Eindruck von Gregor zu gewinnen. Ach, hätte
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