Das schwarze Manifest
»Ich hatte gedacht, Sie.«
»Junger Mann, glauben Sie doch bloß nicht, daß ich auf den falschen Patriotenquatsch reinfalle, den dieser Komarow vom Stapel läßt. Ich habe Vaterlandsliebe erlebt, mein Junge. Ich habe Männer dafür bluten sehen, gute Männer, die dafür gestorben sind. Wissen Sie, ich kann echten Patriotismus erkennen, wenn ich ihn sehe. Und dieser Komarow ist kein Patriot, alles bloß Blech und Bockmist.«
»Ich verstehe«, sagte der Reporter, der überhaupt nichts verstand und völlig verdutzt dreinblickte, »aber offenbar halten doch viele Menschen seine Pläne für Rußland…«
»Seine Pläne für Rußland bedeuten Blutvergießen«, knurrte Onkel Kolja. »Glauben Sie denn nicht, daß in diesem Land schon genug Blut vergossen wurde? Knietief bin ich durch den verdammten Saft gewatet, und ich will nicht noch mehr davon sehen. Der Mann ist ein Faschist. Wissen Sie, ich habe mein Leben lang gegen Faschisten gekämpft. Hab' sie in Kursk, in Bagration bekämpft, hab' sie über die Weichsel direkt bis zu diesem verdammten Bunker getrieben, und ob Deutscher oder Russe, ein Faschist ist ein Faschist, alle nichts als.« Er hätte irgendeines der vierzig Worte benutzen können, die im Russischen die Geschlechtsteile bezeichnen, doch da eine Frau anwesend war, entschied er sich für
»Mersawtzi-Ganoven«.
»Aber sind Sie nicht auch der Ansicht«, protestierte der Journalist, »daß Rußland von all dem kriminellen Unrat befreit werden muß?«
»Natürlich, Unrat gibt es genug. Aber das meiste hat mit ethnischen Minderheiten nichts zu tun; unser Mist ist ureigener russischer Mist. Denken Sie nur an die verlogenen Politiker, die korrupten Bürokraten, die mit den Gangstern Hand in Hand arbeiten?«
»Aber Komarow will doch den Gangstern an den Kragen!«
»Dieser verdammte Igor Komarow wird von den Gangstern finanziert, begreifen Sie das denn nicht? Was glauben Sie denn, wo der das ganze Geld her hat? Von der Glücksfee? Wenn dieser Mann hier das Sagen hat, ist das ganze Land von Gangstern verraten und verkauft. Ich sag' Ihnen was, mein Junge: Kein Mann, der jemals die Uniform dieses Landes trug und sie mit Stolz getragen hat, sollte diesen schwarzberockten Verbrechern zur Macht in unserem Vaterland verhelfen.«
»Aber was sollen wir tun?«
Der alte General griff nach einer Ausgabe der Tageszeitung und zeigte auf die Rückseite.
»Haben Sie gestern abend diesen Prediger im Fernsehen gesehen?«
»Pater Gregor? Nein, warum?«
»Ich glaube, der hat es kapiert, und wir haben uns all die Jahre geirrt. Holen wir Gott und den Zaren zurück.«
Das Interview war eine Sensation; für Aufsehen sorgte allerdings nicht so sehr der Inhalt, sondern die Person, die das Interview gegeben hatte. Rußlands berühmtester Soldat hatte Anklage erhoben, und jeder Offizier, jeder einfache Soldat im Land und auch etliche Millionen Veteranen würden seine Worte lesen.
Das Interview wurde in ganzer Länge in der Wochenzeitschrift
Unsere Armee
abgedruckt, dem Nachfolgeblatt des
Roten Stern,
das in jede Kaserne Rußlands geliefert wurde. Auszüge wurden in den Landesnachrichten gebracht und am Radio wiederholt. Der General war danach zu keinen weiteren Interviews bereit.
Im Haus abseits des Kiselnyboulevards sah Kusnezow, den Tränen nahe, in das erstarrte Gesicht Igor Komarows.
»Ich verstehe das nicht, Herr Präsident. Ich verstehe es einfach nicht. Wenn es einen Menschen im ganzen Land gibt, den ich für einen überzeugten Anhänger der UPK und Ihrer Person gehalten hätte, dann General Nikolajew.«
Igor Komarow und Anatoli Grischin, der aus dem Fenster auf den verschneiten Hof starrte, hörten ihn in finsterem Schweigen an. Dann kehrte der junge Propagandachef in sein Büro zurück, um weitere Vertreter der Medien anzurufen und den Schaden möglichst zu begrenzen.
Die Aufgabe war nicht einfach. Er konnte Onkel Kolja kaum als Greis hinstellen, der seinen Verstand verloren hatte, denn das entsprach ganz offensichtlich nicht den Tatsachen. Also argumentierte er, daß der General alles falsch verstanden hatte, doch die Antwort auf die Frage, woher die UPK ihre Gelder bekam, ließ sich kaum noch umgehen.
Der Ruf der UPK würde sich leichter rehabilitieren lassen, wenn man die gesamte nächste Ausgabe von
Erwachet!
sowie die nächste Nummer von
Vaterland
diesem Thema widmen könnte, aber das war leider unmöglich, da die neuen Druckerpressen gerade erst aus Baltimore abgeschickt wurden.
Im Büro des Präsidenten der UPK
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