Das schwarze Manifest
Bauch. Ihr Rücken sah ähnlich aus. Er drehte sie wieder um, griff nach seinem Skalpell und führte den ersten Schnitt, wobei er dem mitlaufenden Recorder seine Befunde diktierte. Mit Hilfe der Tonbandaufzeichnung würde er später seinen Bericht für die Tölpel vom Morddezernat in der Petrowka schreiben. Er begann mit dem Datum: zweiter August 1999.
Washington, Februar 1986
Zur Begeisterung Jason Monks und beträchtlichen Überraschung seiner Vorgesetzten in der Abteilung SO meldete Major Pjotr Solomin sich Mitte dieses Monats. Er schrieb einen Brief.
Klugerweise versuchte er nicht einmal, Kontakt zu irgendeinem westlichen Ausländer in Moskau aufzunehmen – und erst recht nicht mit der US-Botschaft. Er schrieb an eine Ostberliner Adresse, die Monk ihm gegeben hatte.
Die Herausgabe dieser Adresse bedeutete ein Risiko, aber ein kalkuliertes. Wäre Solomin zim KGB gegangen, um das sichere Haus zu verraten, hätte er einige für ihn sehr peinliche Fragen beantworten müssen. Die Vernehmungsoffiziere hätten gewußt, daß er diese Adresse nie bekommen hätte, wenn er nicht zugesagt hätte, für die CIA zu arbeiten. Hätte Solomin daraufhin protestiert, er habe nur vorgegeben, für die Amerikaner arbeiten zu wollen, wäre das noch schlimmer gewesen.
Weshalb, wäre er gefragt worden, haben Sie den ersten Anbahnungsversuch nicht sofort dem GRU-Kommandeur in Aden gemeldet, und wieso haben Sie den Amerikaner, der Sie anzuwerben versucht hat, entkommen lassen? Diese Fragen ließen sich unmöglich beantworten.
Also würde Solomin vorsichtshalber den Mund halten – oder er gehörte jetzt zum Team. Sein Brief bewies letzteres.
In der UdSSR wurden alle Postsendungen, die fürs Ausland bestimmt waren oder von dort kamen, abgefangen und gelesen. Ebenso kontrolliert wurden sämtliche Telefongespräche, Telegramme, Fernschreiben und Telefaxe. Aber Inlandspost konnte allein wegen ihrer Menge nur überwacht werden, wenn der Absender oder Empfänger verdächtigt wurde. Das galt auch für Sendungen innerhalb des Ostblocks – einschließlich der DDR.
Die Ostberliner Adresse gehörte einem U-Bahn-Fahrer, der als Postbote für die CIA arbeitete und dafür gut bezahlt wurde. CIA-Briefe, die in seinem Briefkasten in einem heruntergekommenen Wohnblock im Stadtteil Friedrichshain landeten, waren stets an Franz Weber adressiert. Weber, der tatsächliche ehemalige Mieter dieser Wohnung, war praktischerweise tot. Wäre der U-Bahn-Fahrer jemals wegen dieser Briefe vernommen worden, hätte er glaubhaft beschwören können, solche Briefe seien erst zweimal gekommen, er selbst könne kein Wort Russisch, sie seien an Weber adressiert gewesen, aber Weber sei tot, deshalb habe er sie weggeworfen. Ein unschuldiger Mann.
Keiner der Briefe trug einen Absender. Ihr Text war banal und langweilig: Hoffe, daß Du bei guter Gesundheit bist, mir geht's auch gut, wie kommst Du mit Deinem Russischkurs voran, hoffentlich können wir unsere Bekanntschaft bei Gelegenheit erneuern, alles Gute, Dein Brieffreund Iwan.
Selbst der ostdeutsche Staatssicherheitsdienst, die Stasi, hätte aus diesem Brieftext nur schließen können, Weber habe bei irgendeinem völkerverbindenden Kulturfestival einen Russen kennengelernt, der sein Brieffreund geworden war. Zu solchen Freundschaften wurden DDR-Bürger ohnehin ermuntert.
Sogar wenn es der Stasi gelungen wäre, die mit unsichtbarer Tinte zwischen die Zeilen geschriebene Nachricht zu entziffern, hätte sie daraus nur schließen können, dieser schon verstorbene Franz Weber sei ein Schwein gewesen, das man leider nicht rechtzeitig geschnappt habe.
Von Moskauer Seite war der Absender nicht mehr aufzuspüren, sobald er den Brief eingeworfen hatte.
War wieder einmal ein Brief aus Rußland gekommen, beförderte Heinrich, der U-Bahn-Fahrer, ihn über die Mauer in den Westen weiter. Seine Methode klingt verrückt, aber im kalten Krieg passierten in der geteilten Stadt Berlin noch viel verrücktere Dinge. Tatsächlich war seine Methode so simpel, daß er nie erwischt wurde. Der kalte Krieg ging zu Ende, Deutschland wurde wiedervereinigt, und Heinrich trat in einen höchst komfortablen Ruhestand.
Bevor Berlin im August 1961 durch die Mauer geteilt wurde, um die Massenflucht von Ostdeutschen einzudämmen, gab es dort nur ein gemeinsames U-Bahn-Netz. Nach dem Mauerbau wurde es geteilt. Viele Tunnel zwischen Ost und West wurden blockiert. Aber auf einem kurzen Teilstück verlief eine ostdeutsche Linie auf Hochbahngleisen
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