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Das schwarze Manifest

Das schwarze Manifest

Titel: Das schwarze Manifest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Forsyth
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der Leichenhalle unter dem Zweiten Medizinischen Institut die Hände und dachte widerstrebend an seine bevorstehende dritte Obduktion dieses Tages.
    »Wer kommt als nächster dran?« fragte er seinen Assistenten, während er sich die Hände mit einem unzulänglichen Papierhandtuch abtrocknete.
    »Nummer einsfünfacht«, sagte der Assistent.
    »Einzelheiten.«
    »Kaukasier, sechzig bis fünfundsechzig. Todesursache unbekannt, Identität unbekannt.«
    Kusmin ächzte innerlich. Wozu der Aufwand? fragte er sich. Ein weiterer Penner, ein weiterer Stadtstreicher, ein weiterer Obdachloser, dessen sterbliche Überreste nach dieser Obduktion vielleicht dazu beitragen würden, den Medizinstudenten der Akademie drei Stockwerke über ihm begreiflich zu machen, wie jahrelanger Mißbrauch sich auf menschliche Organe auswirkte. Vielleicht endete sein Skelett sogar als Vorführmodell in einem Anatomiekurs.
    Wie in jeder anderen Großstadt fiel in Moskau nächtlich, wöchentlich und monatlich eine bestimmte Anzahl von Leichen an, aber zum Glück war nur bei wenigen eine Autopsie erforderlich, denn sonst hätten der Professor und alle seine Kollegen in der Abteilung Forensische Pathologie längst die Waffen strecken müssen.
    Bei den weitaus meisten Großstadttoten liegen »natürliche Todesursachen« vor – bei allen, die zu Hause oder im Krankenhaus an Altersschwäche oder tödlich verlaufenen Krankheiten gestorben sind. Die Leichenscheine aller dieser Toten wurden von Krankenhäusern, Pflegeheimen oder Hausärzten ausgestellt.
    Dann folgte die Kategorie »natürliche Todesursache, unvorhergesehen« – meistens tödliche Herzanfälle. Auch hier übernahmen die Krankenhäuser, in die diese Unglücklichen eingeliefert worden waren, die Erledigung der einfachen, meistens sehr kurzen bürokratischen Formalitäten.
    Als nächstes kamen die Unfälle: Haushalts-, Arbeits- und Verkehrsunfälle. In Moskau gab es zwei weitere Kategorien, die in den letzten Jahren stark zugenommen hatten: Erfrieren (im Winter) und Selbstmorde. Ihre Zahl ging in die Tausende.
    Aus dem Fluß geborgene Leichen wurden – identifiziert oder nicht – in drei Kategorien unterteilt. Vollständig bekleidet, kein Alkohol im Blut: Selbstmord; bekleidet, Vollrausch: Unfall; Badehose oder -anzug: Badeunfall.
    Danach kamen die Fälle von Mord und Totschlag. Sie wurden dem Morddezernat der Moskauer Miliz gemeldet, das Professor Kusmin hinzuzog. Auch in diesen Fällen war die Obduktion oft nur eine Formalität. Wie in allen Großstädten passierten die meisten Gewalttaten im Familienmilieu. Achtzig Prozent aller Morde wurden in Wohnungen verübt, oder der Täter war ein Familienangehöriger. Die Miliz faßte ihn meistens schon nach wenigen Stunden, und die Autopsie bestätigte nur, was alle bereits wußten – Iwan hatte seine Frau erstochen –, und trug zur schnellen Verurteilung des Täters bei.
    Zuletzt kamen die Opfer von Auseinandersetzungen in Kneipen und im Gangstermilieu; was letzteres betraf, wußte Kusmin, daß die polizeiliche Aufklärungsquote bei elenden drei Prozent lag. Die Todesursache gab im allgemeinen keine Probleme auf – eine Kugel im Kopf war eine Kugel im Kopf. Ob die Ermittler den Schützen jemals fanden (eher nicht), brauchte den Professor nicht zu kümmern.
    In allen diesen Fällen, jährlich Tausende und Abertausende, stand eines fest: Die Behörden wußten, wer der Tote war.
    Gelegentlich kam es vor, daß einer namenlos blieb. Die Leiche Nummer 158 war ein Namenloser. Professor Kusmin zog seine Chirurgenmaske hoch, bewegte die Finger in seinen Gummihandschuhen und trat mit gewisser Neugier an den Tisch, während sein Assistent das Laken zurückschlug.
    Hmmm, dachte er, seltsam. Sogar interessant. Der Gestank, von dem ein Laie sich sofort hätte übergeben müssen, störte ihn längst nicht mehr. Mit seinem Skalpell in der Hand machte er einen Rundgang um den Tisch, um den entstellten Toten zu begutachten. Sehr merkwürdig.
    Der Kopf schien trotz seiner leeren Augenhöhlen – offenbar das Werk von Vögeln – unversehrt zu sein. Der Mann hatte etwa sechs Tage lang unentdeckt in einem Wald an der Fernstraße nach Minsk gelegen. Unterhalb des Beckens waren seine Beine wie von Alter und Verwesung verfärbt, aber anscheinend unverletzt. Zwischen Halsgrube und Genitalien fand sich kaum ein Quadratzentimeter Rumpf, der nicht durch starke Prellungen schwarz verfärbt war.
    Kusmin legte sein Skalpell beiseite und wälzte die Leiche auf den

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