Das Schweigen der Laemmer
ihres sein. Abgesehen von der Höhe der Betten und der für Bellas Bedürfnisse notwendigen minimalen sanitären Einrichtung war es Crawford gelungen, dies nicht wie ein Krankenzimmer aussehen zu lassen. Es gab Blumen, aber nicht zu viele. Tabletten waren keine in Sicht - Crawford hatte einen Wäscheschrank auf dem Flur ausgeräumt und ihn mit ihren Medikamenten und Apparaten ge-füllt, bevor er sie vom Krankenhaus nach Hause brachte. (Es war das zweite Mal, daß er sie über die Schwelle dieses Hauses getragen hatte, und der Gedanke raubte ihm nahezu jede Kraft.) Aus dem Süden war eine Warmluftfront heraufgezogen. Die Fenster waren offen, und die Luft von Virginia war mild und frisch. Kle ine Frösche quakten einander im Dunkeln zu.
Das Zimmer war makellos sauber, doch auf dem Teppich sah man inzwischen Fusseln - Crawford mochte den lärmenden Staubsauger nicht durchs Zimmer schieben und benutzte einen manuellen Teppichkehrer, der nicht so gut war. Er tappte leise zum Wandschrank und knipste das Licht an. An der Innenseite der Tür hingen zwei Cliptafeln. Auf einer notierte er Bellas Puls und Blutdruck. Seine Zahlen und die der Tagesschwester wech-selten sich in einer Reihe ab, die sich über viele gelbe Seiten, viele Tage und Nächte erstreckte. Auf der anderen Tafel hatte die Tagesschwester Bellas Medikation hingeschrieben.
Crawford war fähig, jede Arznei zu verabreichen, die sie unter Umständen in der Nacht brauchte. Den Anleitungen einer Krankenschwester folgend hatte er Injektionen an einer Zitrone und dann an seinen Oberschenkeln geübt, bevor er Bella nach Hause holte.
Crawford stand etwa drei Minuten an ihrem Bett und blickte in ihr Gesicht. Ein herrliches Tuch aus Seidenmoire bedeckte ihr Haar wie einen Turban. Sie hatte darauf bestanden, solange sie dazu in der Lage war. Nun bestand er darauf. Er befeuchtete ihre Lippen mit Glyzerin und entfernte mit seinem breiten Daumen ein Stäubchen aus ihrem Augenwinkel. Sie rührte sich nicht. Es war noch nicht die Zeit, sie umzudrehen.
Am Spiegel überzeugte Crawford sich davon, daß er nicht krank war, daß er nicht mit ihr unter die Erde mußte, daß es ihm selbst gut ging. Er ertappte sich dabei, wie er das tat, und es beschämte ihn. Zurück in seinem Sessel konnte er sich nicht daran entsinnen, was er gelesen hatte. Er tastete nach den Büchern neben sich, um das zu finden, das noch ein bißchen warm war.
6. Kapitel
Am Montag morgen fand Clarice Starling diese Nachricht von Crawford in ihrem Briefkasten:
CS,
machen Sie mit dem Raspail-Wagen weiter. In Ihrer Freizeit.
Mein Büro besorgt Ihnen eine Kreditkartennummer für Ferngespräche. Halten Sie mit mir Rücksprache, bevor Sie den Besitz kontaktieren oder irgendwohin gehen. Berichten Sie Mittwoch 16:00 Uhr.
Der Chef hat Ihren Bericht über Lecter mit Ihrer Unterschrift erhalten. Das haben Sie gut gemacht.
JC
SAlC/Abteilung 8
Starling fühlte sich ziemlich gut. Sie wußte, daß Crawford ihr nur eine erschöpfte Maus gab, die sie der Übung halber herumjagen sollte. Er wollte sie aber lehren. Er wollte, daß sie gut abschnitt.
Für Starling übertraf das Höflichkeit allemal.
Kaspail war seit acht Jahren tot. Was für ein Beweisstück konnte sich so lang in einem Wagen halten?
Aus familiärer Erfahrung wußte sie, daß ein Gericht zweiter In-stanz Überlebenden gestattet, ein Fahrzeug vor der Testamentser-
öffnung zu verkaufen, da Automobile derart rasch im Wert sinken, und daß das Geld bei einem Dritten als Treuhänder hinterlegt wird. Es schien kaum wahrscheinlich, daß selbst eine so verwor-rene und umstrittene Erbengemeinschaft wie die von Raspail derart lang an einem Wagen festhalten würde.
Außerdem gab es da das Zeitproblem. Wenn Starling ihre Mittagspause rechnete, hatte sie eine Stunde und fünfzehn Minuten pro Tag frei, um während der Geschäftsstunden das Telefon zu benutzen. Sie würde Crawford am Mittwoch nachmittag Bericht erstatten müssen. Somit blieben ihr zum Aufspüren des Wagens insgesamt drei Stunden und fünfundvierzig Minuten, über drei Tage verteilt, wenn sie ihre Studienperioden verwendete und die versäumte Studienzeit nachts nachholte.
Sie hatte gute Noten aus ihrem Unterricht in Ermittlungsverfah-ren, und sie würde eine Gelegenheit haben, ihren Ausbildern allgemeine Fragen zu stellen.
Während ihrer Mittagspause am Montag wollte die Zentrale des Kreisgerichts von Baltimore County Starling weiterverbinden und vergaß sie dreimal. Während ihrer
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