Das Schweigen der Laemmer
durch.
»Erst gestern hat Sammie dies mit meinem Abendessen her-
übergeschickt«, sagte er.
Es war ein mit Buntstift beschriebener Fetzen Millimeterpapier.
Starling las:
ICH WIL ZUU JESA GEHEN
ICH WIL MID KRIEST GEHN
ICH KANN MID JESA GEHEN
WEHN ICH ECH NED BIEN.
SAMMIE
Starling blickte über die rechte Schulter zurück. Sammie saß mit leerem Gesicht an der Wand seiner Zelle, den Kopf gegen die Gitter gelehnt.
»Würden Sie es laut lesen? Er wird Sie nicht hören.«
Starling hüb an. »Ich will zu Jesus gehen, ich will mit Christus gehen, ich kann mit Jesus gehen, wenn ich wirklich nett bin.«
»Nein, nein. Sagen Sie das bestimmter, mit mehr Ausdruck, a la
›heißem Erbspüree‹. Das Versmaß variiert, doch die Intensität ist dieselbe.« Lecter klatschte leise den Takt. »Erbspüree in dem Topf neun Tage alt. Intensiv, sehen Sie. Leidenschaftlich. ›Ich wil zu Jesa gehn, Ich wil mid Kriest gehn.‹«
»Ich verstehe«, sagte Starling und legte das Papier in den Behälter zurück.
»Nein, Sie verstehen überhaupt nichts.« Dr. Lecter sprang auf, seinen geschmeidigen Körper auf einmal grotesk in einer gno-menhaften Hocke gebogen. Er hüpfte und klatschte den Takt, und seine Stimme klang wie ein Sonar: »Ich wil zu Jesa gehn -«
Sammies Stimme dröhnte hinter ihr so plötzlich wie das Fauchen eines Leopards, lauter als ein Brüllaffe, Sammie auf den Beinen und das Gesicht zwischen die Gitter quetschend, aschgrau und angespannt, die Bänder in seinem Hals deutlich hervortretend:
»ICH WIL ZUU JESA GEHEN
ICH WIL MID KRIEST GEHEN
ICH KANN MID JESA GEHN,
WENN ICH ECH NED BIIIEN.«
Schweigen. Starling entdeckte, daß sie stand und daß ihr Klappstuhl nach hinten umgekippt war. Ihre Unterlagen waren ihr vom Schoß gefallen.
»Bitte«, sagte Dr. Lecter, wieder aufrecht und graziös wie ein Tänzer, und bat sie, sich zu setzen. Er ließ sich bequem auf seinen Stuhl sinken und legte das Kinn auf die Hand. »Sie verstehen überhaupt nichts«, sagte er erneut. »Sammie ist höchst religiös. Er ist einfach enttäuscht, weil Jesus sich so verspätet. Darf ich Clarice sagen, warum du hier bist, Sammie?«
Sammie packte den unteren Teil seines Gesichts und stoppte dessen Bewegungen.
»Bitte?« sagte Dr. Lecter.
»lijaaah«, sagte Sammie zwischen den Fingern.
»Sammie hat in der Highway Baptist Church in Thine den Kopf seiner Mutter auf den Kollektenteller gelegt. Sie sangen ›Gib dem Herrn dein Bestes‹, und es war das Schönste, was er hatte.« Lecter sprach über ihre Schulter. »Danke, Sammie. Es ist völlig in Ordnung. Guck fern.« Ganz wie zuvor sackte der große Mann mit dem Kopf gegen die Gitter auf den Boden. Die Bilder vom Fernsehen krochen über seine Pupillen. Drei Silbersträhnen nun auf seinem Gesicht, Speichel und Tränen.
»Also. Schauen Sie, ob Sie sich seinem Problem widmen können, und vielleicht werde ich mich Ihrem widmen. Quid pro quo.
Er hört nicht zu.«
Starling mußte sich sehr anstrengen. »Der Vers wechselt von
›zu Jesus gehen‹ zu ›mit Christus gehen‹«, sagte sie. »Das ist eine logische Folge: hingehen, ankommen, mitgehen.«
»Ja. Es ist eine lineare Weiterentwicklung. Es freut mich besonders, daß er weiß, daß ›Jesa‹ und ›Kriest‹ ein und dasselbe sind.
Das ist Fortschritt. Es ist schwer, sich mit dem Gedanken anzu-freunden, daß eine einzige Gottheit auch eine Dreieinigkeit ist, besonders für Sammie, der nicht absolut sicher ist, wie viele Personen er selbst ist. Eldridge Cleaver gibt uns die Parabel vom Drei-in-einem-Leben, und wir erachten das als nützlich.«
»Er sieht einen kausalen Zusammenhang zwischen seinem Verhalten und seinen Zielen, das ist strukturiertes Denken«, sagte Starling. »Genauso wie die Tatsache, einen Reim zustande zu bringen. Er ist nicht abgestumpft - er weint. Halten Sie ihn für einen katatonischen Schizoiden?«
»Ja. Können Sie seinen Schweiß riechen? Dieser eigentümliche ziegenartige Geruch ist Hexamethonium. Behalten Sie ihn im Ge-dächtnis, es ist der Geruch von Schizophrenie.«
»Und Sie glauben, er könne behandelt werden?«
»Besonders jetzt, wo er aus einer stumpfsinnigen Phase herauskommt. Wie seine Wangen leuchten!«
»Dr. Lecter, warum behaupten Sie, daß Buffalo Bill kein Sadist ist?«
»Weil die Zeitungen berichtet haben, daß die Leichen Ligatur-male an den Handgelenken, nicht aber an den Knöcheln hatten.
Haben Sie irgendwelche an den Knöcheln der Person in West Virginia
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