Das Schweigen der Laemmer
gesehen?«
»Nein.«
»Clarice, der Entspannung dienendes Abhäuten wird stets mit dem Opfer umgekehrt hängend durchgeführt, damit der Blutdruck im Kopf und in der Brust länger erhalten wird und die be- troffene Person bei Bewußtsein bleibt. Haben Sie das nicht ge-wußt?«
»Nein.«
»Wenn Sie wieder in Washington sind, gehen Sie in die Natio-nalgalerie und schauen Sie sich Tizians Häutung des Marsyas an, bevor sie es in die Tschechoslowakei zurückschicken. Wunderbar für Einzelheiten, dieser Tizian - sehen Sie sich den hilfsbereiten Pan an, der den Wassereimer herbeibringt.«
»Dr. Lecter, wir haben einige außerordentliche Umstände hier und einige ungewöhnliche Gelegenheiten.«
»Für wen?«
»Für Sie, wenn wir dieses Opfer retten. Haben Sie Senatorin Martin im Fernsehen gesehen?«
»Ja, ich habe die Nachrichten gesehen.«
»Was haben Sie von der Erklärung gehalten?«
»Irrig, aber harmlos. Sie ist schlecht beraten.«
»Senatorin Martin ist sehr mächtig. Und entschlossen.«
»Legen Sie los.«
»Ich glaube, Sie haben außerordentliches Verständnis. Senatorin Martin hat zu verstehen gegeben, daß - wenn Sie uns helfen, Catherine Baker Martin lebend und unversehrt zurückzubekom-men - sie Ihnen dabei helfen wird, in eine Bundesanstalt verlegt zu werden, und wenn es eine Zelle mit einer Aussicht gibt, werden Sie sie bekommen. Man wird Sie vielleicht auch bitten, schriftliche psychiatrische Gutachten von neu eingehenden Patienten zu prüfen - mit anderen Worten, ein Job. Keine Lockerung der Sicherheitsvorkehrungen.«
»Das glaube ich nicht, Clarice.«
»Sie sollten es aber.«
»Oh, ich glaube Ihnen. Es gibt jedoch mehr Dinge über menschliches Verhalten, von denen Sie keine Ahnung haben, als das, wie anständiges Abbalgen durchgeführt wird. Würden Sie sagen, daß Sie für eine Senatorin der Vereinigten Staaten eine merkwürdige Wahl als Bote abgeben?«
»Ich bin Ihre Wahl gewesen, Dr. Lecter. Sie haben es vorgezo-gen, mit mir zu reden. Hätten Sie jetzt lieber jemand anderen? Vielleicht sind Sie auch gar nicht der Meinung, daß sie helfen könnten.«
»Das ist sowohl unverschämt als auch unwahr, Clarice. Ich glaube nicht, daß Jack Crawford es zuließe, daß ich je in den Genuß einer Vergünstigung käme... Möglicherweise kann ich Ihnen eine Information liefern, die Sie der Senatorin mitteilen können, doch ich operiere strikt nach dem Motto ›Zahlbar bei Lieferung‹. Vielleicht tausche ich mit einer Information über Sie. Ja oder nein?«
»Wollen wir erstmal die Frage hören.«
»Ja oder nein? Catherine wartet, oder? Lauscht dem Wetzstein?
Worum würde sie Sie Ihrer Meinung nach bitten?«
»Wollen wir erstmal die Frage hören.«
»Was ist Ihre schlimmste Kindheitserinnerung?«
Starling holte tief Atem.
»Schneller als das«, sagte Dr. Lecter. »Ich bin nicht an Ihrer schlimmsten Erfindung interessiert.«
»Der Tod meines Vaters«, sagte Starling. »Erzählen Sie's mir.«
»Er war Polizeichef. Eines Nachts überraschte er zwei Einbrecher, Drogensüchtige, die hinten aus dem Drugstore kamen.
Beim Aussteigen aus seinem kleinen Lieferwagen lud er noch schnell sein Repetiergewehr durch, als sie ihn auch schon ohne Zögern erschossen.«
»Er lud das Gewehr durch?«
»Ja, aber er konnte das Schloß nicht ganz nach vorn führen. Es war ein altes Gewehr mit halbautomatischem Mauserschloß, eine Remington 870, und die Patrone blieb zwischen Magazin und Pa-tronenkammer stecken. Wenn das passiert, schießt das Gewehr nicht, und man muß es zerlegen, um die Ladehemmung zu behe-ben. Er muß beim Aussteigen wohl mit dem Schloßgriff an die Tür gestoßen sein.«
»War er sofort tot?«
»Nein. Er war stark. Er hielt einen Monat durch.«
»Haben Sie ihn im Krankenhaus besucht?«
»Dr. Lecter - ja.«
»Nennen Sie mir eine Einzelheit aus dem Krankenhaus, an die Sie sich erinnern.«
Starling schloß die Augen. »Eine Nachbarin kam, eine ältere Frau, unverheiratet, und sie rezitierte das Ende der ›Thanatopsis‹
für ihn. Das war vermutlich alles, was sie zu sagen wußte. Das war's. Wir haben getauscht.«
»Ja. Sie sind sehr offen gewesen, Clarice. Ich weiß es immer. Ich glaube, es wäre ganz toll, Sie im Privatleben zu kennen.«
»Quid pro quo.«
»War das Mädchen in West Virginia Ihrer Meinung nach zu Lebzeiten körperlich sehr attraktiv?«
»Sie war gut gepflegt.«
»Verschwenden Sie meine Zeit nicht mit Loyalität.«
»Sie war schwer.«
»Groß?«
»Ja.«
»Er hat
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