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Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Titel: Das Schweigen der Miss Keene (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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Suffer and Be Still
     
    Auf ihrem Weg zur Kirche an diesem Sonntag blieb Olivia ein kleines Stück hinter der Familie zurück, wie es sich gehörte. Als sie die Kirche nach den Bradleys und Howes betrat, fiel ihr auf, dass viele Menschen die Bewohner des Herrenhauses anlächelten und leise begrüßten, während sie selbst komplett ignoriert wurde.
    Eliza Ludlow warf ihr jedoch ein Lächeln zu und klopfte neben sich auf die Kirchenbank. Dankbar setzte Olivia sich neben sie.
    Hier spürte sie es wieder – sie gehörte nicht zur Familie und konnte nicht bei ihnen sitzen. Aber ihr Platz war auch nicht mehr auf der Galerie bei den Dienern, obwohl sie sich dort wohler gefühlt hätte. Als könne sie Olivias Unbehagen spüren, drückte Miss Ludlow ihr die behandschuhte Hand und bot ihr an, mit ihr zusammen ins Gebetbuch zu schauen. Sie war so ein Schatz.
    Nach dem Gottesdienst ging Miss Ludlow mit ihr zusammen durchs Kirchenschiff.
    »Dieser Spenzer steht Ihnen gut, Miss Keene.«
    »Danke. Mir gefällt der weinrote Wollstoff, den Sie mir vorgeschlagen haben. Der ist viel schöner als das Dunkelbraun, das ich zuerst wollte.«
    »Ich bin froh, dass Sie damit zufrieden sind.« Eliza Ludlow lächelte und nahm Olivias Arm. »Ich habe gehört, dass wir uns vielleicht mittwochs im Armenhaus sehen?«
    »Ja, wenn ich mich dort nützlich machen kann.«
    »Davon bin ich überzeugt. Mr Tugwell äußert sich sehr lobend über Ihre Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft.«
    Mit sinkendem Herzen bemerkte Olivia das schmerzliche Verlangen auf dem freundlichen Gesicht von Miss Ludlow, als diese den Blick durch die Kirche auf den Pfarrer richtete. Er stand bereits an der Tür und schüttelte seiner Herde zum Abschied die Hand. Als sie ihn erreichten, schenkte er Miss Ludlow ein kurzes Lächeln und wandte dann sein engelhaftes Gesicht Olivia zu.
    Er nahm ihre Hand. »Guten Tag, Miss Keene. Es geht Ihnen gut, hoffe ich?«
    »Ja, es geht mir gut, Sir, danke.«
    Olivia entging nicht, wie Miss Ludlows rehäugiger Blick zwischen ihr und Mr Tugwell hin und her ging und wie ihr Lächeln etwas starr wurde, als sie feststellte, wie viel Aufmerksamkeit er Olivia als relativem Neuankömmling widmete und wie lange er ihre Hand hielt. War der Mann denn blind? Oder ignorierte er Miss Ludlow absichtlich und war sich gar nicht bewusst, was für eine wunderbare Frau sie war?
    Olivia hielt Eliza Ludlow für einen Schatz. Sie hatte braune Augen, Grübchen in den Wangen und ein freundliches, wenn auch leicht schiefes Lächeln. Ihr dunkles Haar war hinten locker hochgesteckt und umrahmte ihr Gesicht auf attraktive Weise. Sie besaß nicht die auffällige Schönheit einer Judith Howe oder Sybil Harrington, aber eine natürliche, liebliche Ausstrahlung. Miss Ludlow war außerdem sanftmütig, intelligent, gütig und konnte gut mit Menschen umgehen. Sie würde eine großartige Pfarrfrau abgeben. Was fehlte Mr Tugwell an Eliza, dass er sie so völlig übersah? Olivia hoffte von ganzem Herzen, dass Mr Tugwells vorübergehendes Interesse an ihr keinen Keil zwischen Miss Ludlow und sie treiben würde. In ihrer Position war es schwer, Freunde zu finden.
    »Vielleicht könnten Sie am Mittwoch Tee mit mir trinken«, lud Miss Ludlow sie ein, als ihre Wege sich trennten, »nach unserer Arbeit im Armenhaus?«
    Olivia lächelte. »Es wäre mir eine Ehre.«
    Miss Ludlow war wirklich ein Schatz!

     
    Das Jesus Armenhaus.
    Olivia betrachtete das Schild an dem niedrigen weißen Gebäude interessiert; neben dem eingravierten Namen war gut erkennbar eine Taube abgebildet.
    »Lady Brightwell hat diese Plakette in Arbeit gegeben«, erklärte Charles Tugwell, während er den Pfarrgarten durchquerte und sich zu ihr gesellte. »Ich finde das wirklich ironisch. Das Armenhaus wurde von einem Freibauern gegründet, der durch den Handel mit Land und Besitz reich wurde. Ihm haftete ein ziemlich zweifelhafter Ruf an. Ich frage mich, ob er dachte, seine gute Tat würde die schlechten aufwiegen.«
    »Halten Sie nichts von guten Taten?« Sie verlagerte das Gewicht ihres Korbs, indem sie den Henkel mit beiden Händen umklammerte, gerade als eine kühle Brise ihr das Band ihrer Haube ins Gesicht wehte.
    »Meine liebe Miss Keene, was wäre die Welt ohne gute Taten?« Er streifte das Band von ihrer Wange. »Ermahnt uns die Bibel nicht dazu, nicht nur Hörer, sondern auch Täter des Wortes Gottes zu sein? Doch selbst über einen Berg von guten Taten können wir nicht in den Himmel klettern.«
    Seine

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