Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
eingeladen, die Nacht im Gästezimmer des Pfarrhauses zu verbringen. Miss Tugwell wird Sie gern willkommen heißen, das weiß ich sicher.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich … vielleicht werde ich wirklich darauf zurückkommen. Wenn Sie sicher sind, dass das keine zu große Belastung ist?«
»Ganz und gar nicht. Und die Jungen und ich geloben, unser bestes Benehmen an den Tag zu legen. Für Harley kann ich allerdings nicht sprechen.« Er grinste und wandte sich wieder an Miss Ludlow. »Wenn Sie so nett sein könnten, Miss Eliza, und Miss Keene den Weg beschreiben würden, sobald die Angelegenheiten hier erledigt sind?«
»Natürlich, gern.«
»Dann verabschiede ich mich erst einmal von Ihnen.« Er verbeugte sich vor den beiden Damen und verließ das Geschäft.
Als das Läuten der Ladenglocke verklang, fragte Eliza Ludlow freundlich: »Und wie kann ich Ihnen helfen, Miss Keene?«
»Ich hoffe, eine Stellung zu finden, verstehen Sie …«, begann Olivia.
Die dunklen Augenbrauen der Ladenbesitzerin zogen sich zusammen. »Ich fürchte, dieses kleine Geschäft wirft kaum genug für meinen eigenen Lebensunterhalt ab.«
»Oh nein. Bitte entschuldigen Sie, ich meinte nicht hier. Soweit ich weiß, gibt es eine Mädchenschule in St. Aldwyns.«
»Ja, davon habe ich gehört. Sie wird von einem älteren Schwesternpaar geleitet, glaube ich. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob sie jemanden brauchen, aber Sie könnten es versuchen.«
»Das ist meine Absicht. Aber da sollte ich nicht so aussehen.« Olivia schob ihren Umhang an einer Schulter zurück, sodass die notdürftige Reparatur ihres Kleids sichtbar wurde. »Ich fürchte, es gab einen unglücklichen Zwischenfall – eigentlich sogar mehrere – auf meinem Weg hierher.«
Miss Ludlow seufzte mitfühlend. »Sie armes Kind.«
»Können Sie mir Nadel und Faden verkaufen, damit ich den Schaden in Ordnung bringe?«
»Ja, das kann ich. Brauchen Sie blauen Faden?«
Olivia nickte. »Und haben Sie vielleicht auch noch eine Bürste und Haarnadeln?« Ihr Magen beschwerte sich mit unhöflichem Knurren und sie senkte den Kopf, um die Schamesröte zu verbergen.
»Natürlich, meine Liebe.« Eliza Ludlow lächelte herzlich. »Und Sie müssen nach oben in meine Räume kommen, um sich ordentlich zurechtzumachen. Darf ich Sie zu Tee und Kuchen einladen?«
Diese unerwartete Großzügigkeit trieb Olivia Tränen in die Augen. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Vielen Dank.«
Eine Stunde später war Olivias Haar gekämmt und anständig hochgesteckt, ihr Kleid geflickt und beinahe ganz sauber. Sie trug eine neue Haube und zwei Handschuhe, und ein Pompadour baumelte an ihrem Handgelenk. Sie hatte genug Geld gehabt, um die Haube zu kaufen, aber Eliza hatte darauf bestanden, ihr einen einzelnen Handschuh zu schenken. Das Gegenstück dazu sei ihr verloren gegangen und dieser passe doch beinahe perfekt zu dem anderen von Olivia, meinte sie. Da Olivia ihre spärlichen Mittel nicht erschöpfen wollte, hatte sie dankbar zugestimmt und das Angebot angenommen. Jetzt waren die kleine Börse ihrer Mutter, ein neuer Kamm und ein Taschentuch im Pompadour verstaut, den Miss Ludlow ihr zu einem verdächtig niedrigen Preis verkauft hatte.
Als Olivia bereit zum Aufbruch war, ließ sie sich von Eliza den Weg zum Pfarrhaus beschreiben. »Bleiben Sie auf der Hauptstraße, die einen Bogen nach Norden beschreibt. Das Pfarrhaus folgt direkt nach einem alten weißen Haus mit einem Taubenschlag.«
»Glauben Sie, es schickt sich für mich, die Einladung des Pfarrers anzunehmen?«, wollte Olivia wissen. »Wird Mrs Tugwell nichts dagegen haben?«
»Sie meinen Miss Tugwell, seine Schwester.«
»Oh. Ich dachte –«
»Mrs Tugwell starb vor ein paar Jahren, die arme Seele.«
»Wie tragisch. Diese armen mutterlosen Jungen …«
»Ja.« Miss Ludlows braune Augen glänzten mitfühlend. »Trotzdem denke ich, dass es schicklich ist. Es sei denn, Sie würden sich im Schwanen wohler fühlen, doch das Gasthaus wäre vielleicht mit größeren Kosten verbunden als Sie erübrigen möchten.«
»Ich fürchte, das stimmt.«
»Dann hoffen und beten wir, dass die Schule Sie direkt einstellen kann.«
Olivia drückte der Geschäftsinhaberin die Hand. »Danke. Sie waren äußerst freundlich zu mir und ich werde es nie vergessen.«
»Gern geschehen.« Miss Elizas Aufmerksamkeit wurde plötzlich von einer Hutschachtel auf der Theke abgelenkt, und ihre dunklen Brauen zogen sich vor Ratlosigkeit oder Irritation zusammen.
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